zurück
Für jeden ein gutes Wort
Gauck-Wahl Die Zustimmung für Joachim Gauck ist groß. Einen Wermutstropfen gibt es: Über 100 Delegierte aus dem eigenen Lager verweigerten ihm ihre Stimme.
|
Von unserem Korrespondenten Martin Ferber
 |  aktualisiert: 04.02.2016 18:08 Uhr

Einen Moment lang bleibt er auf seinem Platz in der ersten Reihe des Reichstagsgebäudes sitzen, ohne sichtliche Regung, tief in Gedanken versunken, den Blick weit ins Leere gerichtet, während sich neben ihm alle von ihren Sitzen erheben und begeistert applaudieren. Es ist ein letztes Innehalten, ein letztes Durchatmen, Sammeln und Kraft schöpfen, bevor aus dem einfachen Bürger Joachim Gauck der elfte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland wird, der erste Mann im Staate. Er scheint zu ahnen, was nun auf ihn zukommen wird, wie groß die Erwartungen sind, die sich mit seiner Wahl verbinden, wie gewaltig die Vorschusslorbeeren, die nun auf ihm lasten, und wie eng die Grenzen des Protokolls.

Es ist Sonntag, 14.24 Uhr. Eben hat die 15. Bundesversammlung den früheren Rostocker Pastor und ersten Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen mit einer überwältigenden Mehrheit von gut 80 Prozent ins Schloss Bellevue gewählt, 991 von 1232 Wahlfrauen und -männer stimmten für ihn, 108 enthielten sich der Stimme, 126 votierten für seine Gegenkandidatin Beate Klarsfeld, drei mehr als die Linkspartei Delegierte hat. Einen Moment verharrt Gauck in Stille, dann geht ein Ruck durch den 72-Jährigen. Mit fester, kräftiger Stimme nimmt er die Wahl an, schreitet er ans Rednerpult und dankt in bewegenden Worten: „Was für ein schöner Sonntag...“

Joachim Gauck schreibt Geschichte. Und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Er ist der erste Ostdeutsche im höchsten Amt des Staates, zudem der Erste ohne Parteibuch, auch wenn er einst zu den Mitbegründern des „Neuen Forums“ in Rostock gehörte, und der erste Präsident, der mit der Frau an seiner Seite, der neuen „First Lady“ Daniela Schadt, nicht verheiratet ist. Und noch nie war ein Staatsoberhaupt am Tag seiner Wahl so alt wie er. Wie zwei andere große Präsidenten vor ihm, Richard von Weizsäcker und Johannes Rau, schafft er es erst im zweiten Anlauf, vor knapp zwei Jahren, am 30. Juni 2010, scheiterte er erst im dritten Wahlgang gegen Christian Wulff, den damaligen Kandidaten der schwarz-gelben Koalition.

Doch dieses Mal ist alles anders. Seine Wahl ist schon am Abend des 19. Februar beschlossene Sache, als nach stundenlangem Ringen im Kanzleramt und einem Fast-Koalitionsbruch Bundeskanzlerin Angela Merkel dem Druck des Koalitionspartners FDP nach- und ihren Widerstand gegen den einstigen Rostocker Pastor aufgibt. Nach dem Rücktritt von Christian Wulff zwei Tage zuvor einigen sich die schwarz-gelbe Koalition und die rot-grüne Opposition auf Gauck als gemeinsamen Kandidaten, in der Bundesversammlung bringen es die fünf Parteien auf 1100 von 1240 Stimmen. Und, selten genug im politischen Geschäft, die Begeisterung für den neuen ersten Mann im Staate könnte größer kaum sein. „Er wird sein Amt gut für unser Land wahrnehmen“, schwärmt Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich von ihm „wichtige Denkanstöße“ erwartet, sie freue sich darauf, von ihm „Anregungen zu bekommen“. Ihr Vizekanzler, FDP-Chef Philipp Rösler, nennt Gauck eine „große Persönlichkeit“, dessen Freiheitsbegriff von höchster Aktualität sei. Und auch Grünen-Fraktionschefin Renate Künast findet den neuen Präsidenten schlicht gut: „Er lebt den Freiheitsbegriff.“ Sie freue sich auf ein Staatsoberhaupt, „mit dem man ernsthaft diskutieren kann“. Dass sich 108 Wahlfrauen und -männer aus dem Gauck-Lager der Stimme enthalten, wird am Sonntag im Reichstagsgebäude zwar mit einem gewissen Erstaunen und einer leichten Verwunderung registriert, aber in Reihen der schwarz-gelben Koalition nicht überbewertet. Das sei ein „ehrliches Ergebnis“, heißt es in der Unionsfraktion, aus der wohl die meisten Enthaltungen stammen, aber dürfe nicht als Misstrauensvotum gegen den neuen Präsidenten verstanden wissen. „Nicht alle gönnen Rot-Grün diesen Triumph“, sagte ein führender Christdemokrat unserer Zeitung. CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt spricht von einem „überwältigenden Ergebnis“ für den gemeinsamen Kandidaten. „Ich bin sicher, dass er uns lehren wird, den Geschmack an der Freiheit nicht zu verlieren, da er das Salz in der Suppe einer jeden Demokratie ist.“ Gauck selber kann sich am Sonntag der Glückwünsche kaum erwehren. Erst im Plenarsaal, danach beim Empfang auf der Fraktionsebene des Reichstagsgebäudes ist er ständig von Gratulanten umringt, die ihm für seine neue Aufgabe das Beste wünschen. Geduldig nimmt er sich Zeit für alle und hat, ganz Pastor und Seelsorger, für jeden ein gutes Wort parat – und beweist dabei auch Humor. Otto Rehhagel, den Trainer der abstiegsbedrohten Berliner Hertha, der von der Berliner CDU als Wahlmann nominiert worden ist, tröstet er mit den Worten, dieser habe wahrscheinlich den schlimmeren Job als er.

Für Beate Klarsfeld waren es am Ende drei Stimmen mehr. Drei Stimmen jenseits des Lagers der Linken, die sie als Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten ins Rennen geschickt hatten. Ein kleiner Achtungserfolg – aber mit etwas anderem hatte die 73-Jährige Deutsch-Französin auch nicht gerechnet. „Meine Aufstellung war symbolisch“, sagt die zierliche Dame mit einem breiten Lächeln. Klarsfeld hofft nun auf späte Anerkennung für ihren Kampf gegen NS-Verbrecher. Bislang blieb ihr etwa das Bundesverdienstkreuz verwehrt. Klarsfelds gute Laune wurde am Sonntag durch die Niederlage gegen Gauck nicht getrübt. Sie freute sich darüber, überhaupt für das höchste Staatsamt in ihrem Heimatland im Rennen gewesen zu sein. Denn wer hätte das im Jahr 1968 für möglich gehalten? Damals wurde die 29-Jährige zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, weil sie CDU-Bundeskanzler Georg Kiesinger wegen dessen NS-Vergangenheit ohrfeigte. Das Etikett der „Nazi-Jägerin“ begleitet sie seit Jahrzehnten.

So herrscht im Reichstag eine heitere, entspannte Atmosphäre an einem heiteren Sonntag im Frühling. Der frühere SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel schüttelt zahlreiche Hände, der einstige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers plaudert angeregt mit CSU-Chef Horst Seehofer, dessen Amtszeit als amtierendes Staatsoberhaupt nach 30 Tagen zu Ende ist, FDP-Chef Philipp Rösler lässt sich mit Wahlleuten fotografieren und Bundeskanzlerin Angela Merkel diskutiert angeregt mit dem grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, und SPD-Chef Sigmar Gabriel. Und alle stimmen Bundestagspräsident Norbert Lammert zu, der zum dritten Mal innerhalb von drei Jahren eine Bundesversammlung leitet: „Dass die Abstände in jüngerer Zeit immer kürzer werden, wird niemand für eine Errungenschaft halten.“ Es wäre schön, „dass wir wieder in den üblichen Fünf-Jahres-Rhythmus zurückkehren“. Noch eine hohe Erwartung an Joachim Gauck an diesem schönen Sonntag...

|
|
 
Themen & Autoren / Autorinnen
Beate Klarsfeld
Bundeskanzler der BRD
Bundeskanzleramt
Bundeskanzlerin Angela Merkel
Bundesversammlung
CDU
CDU/CSU-Bundestagsfraktion
Christian Wulff
Daniela Schadt
FDP
Gerda Hasselfeldt
Horst Seehofer
Joachim Gauck
Jochen Vogel
Johannes Rau
Jürgen Rüttgers
Ministerium für Staatssicherheit
Norbert Lammert
Otto Rehhagel
Philipp Rösler
Renate Künast
Richard von Weizsäcker
Schloss Bellevue
Sigmar Gabriel
Staatsoberhäupter
Winfried Kretschmann
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen