
Der Prager Frühling und seine Niederschlagung veranlasste Gerd Poppe, sich öffentlich in der DDR zu Wort zu melden. In seiner Wohnung veranstaltete er Dichterlesungen und veröffentlichte kritische Schriften zu Missständen in der DDR. Zusammen mit anderen Bürgerrechtlern gründete er die Oppositionsgruppe Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM). Ein Gespräch über die Anfänge der Bürgerrechtsbewegung, über Hilfe von Politikern und über Fehler, deren Wirkung anhält.
Frage: In diesen Tagen laufen die großen Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag der friedlichen Revolution. Man hat die Bilder der großen Demonstrationen in Leipzig und Berlin vor Augen – aber eigentlich begann doch alles sehr viel früher?
Gerd Poppe: Es wird immer gesagt, dass sich erst im Herbst 89 die Menschen zu Wort gemeldet haben. Das ist nicht richtig. Es gab schon jahrelang kleine oppositionelle Gruppen. Ausgangspunkt waren einzelne Kirchen. Sie stellten den Gruppen in den frühen 80er Jahren Räume zur Verfügung. Hier konnten sich die Menschen im geschützten Raum treffen - abseits der staatlichen Kontrolle und Unterdrückung.
Gab es einen bestimmten Zeitpunkt, ab dem sich mehr Menschen zu Wort gemeldet haben?
Poppe: Schon im November 1987 und im Januar 1988 kamen DDR-weit Tausende in Kirchen zusammen, um gegen Verhaftungen von Oppositionellen zu protestieren. Ein bedeutender Tag war der 7. Mai 1989. An diesem Tag fanden die Kommunalwahlen in der DDR statt. Wir konnten bei diesen Wahlen erstmalig massive Wahlfälschungen nachweisen. Ab diesem Tag gingen an jedem 7. des Monats Menschen aus Protest auf die Straße. Am Anfang waren es wenige Leute. Aber bald waren es Hunderte, die sich auf dem Berliner Alexanderplatz trafen. Am 7. Oktober schlossen sich ihrem Protestzug zum Palast der Republik 2000 bis 3000 Menschen an.
Ihre Gruppe, die Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM), hat den geschützten Raum der Kirche nicht genutzt?
Poppe: Die IFM hat sich Mitte der 80er Jahre außerhalb der Kirche gebildet. Risiken wie Berufsverbote, Hausdurchsuchungen und Inhaftierungen mussten wir in Kauf nehmen, da wir eine größere Öffentlichkeit erreichen wollten. Wir haben mit dem eigenen Namen unterzeichnete Erklärungen herausgegeben und illegale Zeitschriften gedruckt.
Haben Sie mit Ihren Veröffentlichungen viele Menschen erreicht?
Poppe: Wir haben unsere Publikationen und Erklärungen DDR-weit verteilt und auch an West-Journalisten weitergegeben. Viele Menschen in der DDR haben abends die Nachrichten im West-Fernsehen angeschaut und wurden dadurch über die Missstände und Verhaftungen informiert. Außerdem konnten wir Unterstützer in Westdeutschland gewinnen.
Viele Politiker in der Bundesrepublik haben damals beteuert, dass sie den „Brüdern und Schwestern im Osten“ gerne helfen würden – da müssen Sie ja jede Menge Unterstützung bekommen haben?
Poppe: Nein. Viele waren es nicht. Es war eine kleine Gruppe von Politikern, überwiegend von den Grünen. Eine Minderheit um Petra Kelly setzte sich für die Durchsetzung der Menschenrechte in Osteuropa und der DDR ein.
Wie sah diese Hilfe aus?
Poppe: Bundestagsabgeordnete mit einem Diplomatenpass wurden kaum kontrolliert an der Grenze. Sie konnten so im Kofferraum Bücher oder Zeitschriften transportieren. Wir wurden auch mit Druckmaschinen und Zubehör versorgt. Das konnte man in der DDR nicht bekommen. Es war ja schon verdächtig, wenn man eine Schreibmaschine besaß. Auch einige Journalisten haben uns unterstützt. Dadurch konnte ich beispielsweise jeden Montag den „Spiegel“ lesen, den ansonsten allenfalls einige SED-Privilegierte erhielten.
In der westlichen Öffentlichkeit schaute man damals stark auf die Opposition in Polen. Bereits 1980 gab es eine Streikwelle gegen die kommunistische Regierung. Millionen Menschen sammelten sich in der Gewerkschaft „Solidarnosc“?
Poppe: Ja, Polen war uns damals voraus. Es gab dort die "fliegenden Universitäten" mit Professoren, die nicht mehr an der Uni lehren durften. Lesungen und Ausstellungen in Wohnungen. Solche Dinge haben wir von unseren Nachbarn gelernt. Aber auch, dass wir Menschenrechtsverletzungen bekanntmachten. Ein besonderes Vorbild für die IFM war die tschechoslowakische Charta 77.
Auch die friedliche Revolution von 1989 hatte Vorläufer in Osteuropa?
Poppe: Unbedingt. Viele Impulse gingen von unseren östlichen Nachbarn aus. Erleichtert wurden sie auch durch Gorbatschows Reformen in der Sowjetunion. Ungarn zerschnitt im Juni 1989 den Grenzzaun zu Österreich. Im August kam die erste nichtkommunistische Regierung Polens ins Amt. Der Weg nach Europa war damals ein Hauptanliegen in Ostmitteleuropa. Umso bedrückender ist die heutige nationalistische und europakritische Politik Ungarns und Polens.
Diese Entwicklung beobachtet man ja auch hierzulande? Gibt es besondere Gründe für den Wahlerfolg der AfD in den östlichen Bundesländern?
Poppe: In der DDR gab es keine Aufarbeitung des Nazi-Systems. Die DDR hat sich als antifaschistisch bezeichnet und sah sich als Sieger der Geschichte. Es wurden frühzeitig NSDAP-Mitglieder in die SED aufgenommen. In Gedenkstätten wurde der Holocaust nicht erwähnt. In den Schulbüchern stand nicht, dass sechs Millionen Juden ermordet wurden. Es wurde immer nur vom kommunistischen Widerstand geredet. Leider erfahren auch die meisten heutigen Schüler mehr über die alten Römer und die deutschen Kaiser als über das letzte Jahrhundert. Für die DDR-Geschichte bleibt am Ende kaum noch Zeit. Und manchen früheren DDR-Lehrern ist es peinlich, über das damalige System zu reden. Vielleicht muss man dies alles berücksichtigen. Hinzu kommt, dass die DDR-Bürger kaum Kontakte zu Ausländern hatten.
Aber in Ostdeutschland gab es 60 000 Vertragsarbeiter aus Vietnam, die ja dort gelebt haben?
Poppe: Diese Vertragsarbeiter aus Vietnam, Angola oder Mosambik wurden in Plattenbauen zusammengepfercht und versteckt. Wir haben diese Menschen so gut wie nicht zu Gesicht bekommen. Es gab daher für uns im Alltag keinerlei Berührungspunkte mit anderen Kulturen.
Manche Menschen führen die Zustimmung für die AfD auch auf Fehler bei der Wiedervereinigung zurück?
Poppe: Ja, schon die verfrühte Währungsunion am 1. Juli 1990 war ein Problem. Der damalige Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl und BDI-Chef Tyll Necker waren gegen die Währungsreform. Sie haben die Schwierigkeiten damals schon erkannt. Als die DDR-Bürger das Westgeld erhielten, kaufte niemand mehr DDR-Waren. Ohnehin waren die meisten Betriebe herabgewirtschaftet, die Böden kontaminiert. Nun brach die Industrie nahezu vollständig zusammen.
Und die Fehler der Treuhand?
Poppe: Irgendein Gremium musste diese Arbeit machen. Man hätte allerdings eine Verpflichtung einfordern müssen, dass ein Teil der Arbeitsplätze für die nächsten Jahre erhalten bleibt, wenn ein Investor den Betrieb für einen symbolischen Preis übernimmt. Tatsächlich hat man viel zu wenig darauf geachtet, dass auch auf dem flachen Land ein lebenswertes Leben möglich ist. In manchen kleineren Orten sieht es heute noch aus wie nach dem Mauerfall. Bahnhöfe sind stillgelegt und überwuchert. Der Bus fährt, wenn überhaupt, einmal am Tag. Da muss man sich nicht über die Unzufriedenheit wundern.