
Die Menschen in Chicago und Indianapolis wissen mit klirrender Kälte umzugehen – minus 15, minus 20 Grad sind im Norden der USA keine Seltenheit. Die Autos werden am Morgen in der Garage vorgeheizt, die Menschen tragen moderne Thermokleidung, man richtet sich auf die Kälte ein. Doch was Millionen Menschen in den nördlichen Regionen der USA derzeit durchstehen müssen, hat eine andere Dimension. „Die Kälte macht uns richtig Angst“, sagt Greg Ballard, Bürgermeister von Indianapolis.
In der Stadt fällt das Thermometer an diesem Montag auf minus 25 Grad – angesichts des eisigen Polarwindes herrscht eine gefühlte Temperatur von minus 41 Grad. „In nur wenigen Minuten im Freien kriegen die Leute Frostbeulen. Sie werden an den Gliedern taub, spüren nicht einmal, dass sie Frostbeulen kriegen“, warnt Ballard. Damit die Leute nicht im Auto erfrieren, zieht der Bürgermeister die Notbremse: Fahrverbot in der Stadt.
Selbst Meteorologen können kaum glauben, was derzeit im Norden der USA passiert: In Fargo in North Dakota soll die gefühlte Temperatur auf sage und schreibe minus 60 Grad Fahrenheit sinken, das sind minus 51 Grad Celsius. „Ich kann mir eine solche Temperatur gar nicht vorstellen“, räumt selbst die Meteorologin des TV-Senders CNN ein.
„Polar voltex“ nennen die Experten das gegenwärtige Wetterphänomen. In Kurzform: Die eiskalte Luft strömt direkt aus dem Polarkreis in die USA. Dabei war der Montag erst „Tag eins“ der Kältewelle, die bis Wochenmitte eher noch grimmiger werden dürfte.
Die Ironie der gegenwärtigen Wetterlage aber ist, dass es etwa in ansonsten kältegewohnten Anchorage in Alaska derzeit deutlich wärmer ist als in Atlanta im Südstaat Georgia oder in Memphis (Tennessee). Minus vier Grad Celsius ist es am Montag in Atlanta kalt, noch mehr bibbern müssen die Südstaatler bei minus elf (gefühlt: minus 22) in Memphis. „Das ist kälter als in Moskau“, ordnet ein lokaler Wettersender die Kapriolen ein.
Doch die Amerikaner trotzen der Kälte, so gut sie können. In vielen Gegenden bleiben die Schulen geschlossen, mancherorts raten die Behörden den Leuten, zu Hause zu bleiben, und der Verkehr leidet ohnehin unter dem Super-Frost.
„Ich lebe hier schon so lange, keine Kälte kann mir zusetzen“, meint indes ein 72-Jähriger in Chicago. „Man muss sich nur dicker anziehen“, sagt er der „Chicago Tribune“. In Green Bay in Wisconsin ließen es sich gar Zehntausende am Sonntagabend nicht nehmen, bei gefühlten minus 26 Grad Celsius im Stadion stundenlang dem Football-Spiel ihrer „Green Bay Packers“ zu folgen. „Man muss sich viele, viele Pullover anziehen“, meint einer der jungen Zuschauer. Um die Fans wenigstens von innen warm zu halten, gab es gratis heißen Kaffee und heiße Schokolade. Cola oder Bier drohten bei der Kälte zu gefrieren.
Insgesamt sind über 140 Millionen Amerikaner von der Kältewelle betroffen – mehr als ein Drittel des Landes. US-Meteorologen sprechen von der schlimmsten Kältewelle seit 20 Jahren. Meteorologen sagen voraus, dass die arktische Kälte sich in den nächsten Tagen in Richtung Osten ausweiten und besonders die Neuengland-Staaten hart treffen wird. Seit Beginn der Kältewelle am vergangenen Donnerstag kamen mindestens 13 Menschen ums Leben, die meisten bei Verkehrsunfällen. Auf dem Kennedy-Flughafen in New York schlitterte am Sonntag ein Flugzeug in einen Schneehaufen; die 35 Passagiere blieben unverletzt.
Die Ursache der extremen Kältewelle ist das Zusammenspiel eines Hochs und eines Tiefs: Polare Luft gelangt direkt aus der Arktis in die USA. Marcus Beyer vom Deutschen Wetterdienst in Offenbach erklärt: Hochdruckgebiete werden im Uhrzeigersinn umströmt, Tiefdruckgebiete in der entgegengesetzten Richtung. „Dazwischen stellt sich eine nördliche Strömung ein, die die Polarluftmassen direkt vom Nordpol nach Süden führt.“
Dass die Kälte nach Europa kommt, ist nicht zu erwarten. „Das Gegenteil ist der Fall“, sagt Beyer. Über dem Atlantik würden sich wohl kräftige Tiefdruckgebiete entwickeln. „Entsprechend werden sehr warme Luftmassen zu uns geschaufelt.“ Bis Donnerstag gibt es in Deutschland außergewöhnlich milde Temperaturen von 10 bis 15 Grad.
Kälterekorde
Die Menschen im Norden der USA sind an eisige Temperaturen gewöhnt. Doch die gegenwärtige Kältewelle lässt selbst Hartgesottene zittern. Das halbe Land ist wie gelähmt. Heftige Schneefälle und Eiseskälte von minus 30 Grad oder noch kälter machen den Menschen zu schaffen. An verschiedenen Orten war es in der Vergangenheit aber noch erheblich kälter. Die bislang tiefste Temperatur in den USA seit Beginn der Aufzeichnungen wurde mit minus 62,2 Grad am 23. Januar 1971 in Prospect Creek in Alaska gemessen. Für den Rest der USA liegt der Rekordwert bei minus 56,7 Grad – gemessen am 20. Januar 1954 am Rogers Pass in Montana. Für Deutschland gibt der Deutsche Wetterdienst (DWD) den Tiefstwert mit minus 37,8 Grad an, erfasst am 12. Februar 1929 im oberbayerischen Wolznach. Der private Wetterdienst Meteomedia verzeichnet die tiefste jemals gemessene Lufttemperatur mit minus 45,9 Grad am 24. Dezember 2001 am Funtensee in Bayern. Der DWD zweifelt den Wert allerdings an: Es handele sich nicht um einen offiziellen Rekord. Den offiziellen Kälte-Weltrekord hält mit minus 89,2 Grad am 21. Juli 1983 die russische Forschungsstation „Wostok“ in der Antarktis. Text: DPA