Die Schilder, die an Wegesrändern und zwischen Sträuchern hervorragen, wären an dieser Stelle gar nicht notwendig. „Souvenez-vous!“, „Erinnert euch!“, mahnen sie, dabei lässt jeder Blick in die Landschaft unweigerlich an jene Zeit denken, die zwar 100 Jahre zurückliegt, 1914 bis 1918, die aber hier um Verdun überall präsent und in die Landschaft eingeprägt ist.
Die welligen Verformungen der Erde, über die längst Gras gewachsen ist, zeugen immer noch von den Bombeneinschlägen im Ersten Weltkrieg. Alte Bunker ragen zwischen Bäumen hervor. Auf den Soldatenfriedhöfen reihen sich weiße Kreuze – und schwarze für die deutschen Gefallenen – aneinander. Einstige Schützengräben wurden restauriert, damit historisch Interessierte sie besichtigen und das Grauen der Soldaten, die hier ausharren mussten, zumindest ansatzweise nachempfinden können. Ortsschilder erinnern an die ehemaligen Dörfer, die damals komplett zerstört und nie mehr aufgebaut wurden. Einen symbolischen Bürgermeister haben sie bis heute, wenn auch keinen einzigen Einwohner.
„Wer hier aufwächst, badet in der Erinnerung an diese Zeit und ist ständig mit ihr konfrontiert“, sagt Vincent Jacquot. Der beim regionalen Tourismusamt angestellte Historiker spricht aus eigener Erfahrung. „Hier wird einem der unschätzbare Wert eines friedlichen Europas wohl noch bewusster als anderswo.“ Seit vier Jahren organisieren die Stadt Verdun und die Region, aber auch Schulen und private Vereine ein umfangreiches Programm mit Konferenzen, Projekten und Ausstellungen, die Aspekte des Ersten Weltkriegs behandeln, der in Frankreich als „Großer Krieg“ bezeichnet wird. Die verlustreichen Kämpfe vor allem in der zehn Monate andauernden „Hölle von Verdun“ im Jahr 1916 stehen sinnbildlich für die Sinnlosigkeit des kriegerischen Mordens. Damals wollte die Oberste Heeresleitung der Deutschen die Franzosen unter einem beispiellosen Artilleriebeschuss rasch aufreiben, hatte aber nicht mit deren zähem Widerstand gerechnet. So dient Verdun, das mehr moralische als strategische Bedeutung hatte, als Symbol für die bedingungslose Opferbereitschaft bei der Verteidigung des Vaterlandes und beförderte den Helden-Mythos des „Poilu“ – so der Name des französischen Frontsoldaten. Er lebt bis heute fort.
Als sich 1984 der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und Präsident François Mitterrand vor dem hier gelegenen Beinhaus von Douaumont, in dem Knochen von 130 000 Soldaten aus beiden Ländern ruhen, einander die Hände reichten, besiegelte diese berühmt gewordene Geste die deutsch-französische Aussöhnung. Verdun gehörte nun auch zu den unumgänglichen Stationen des jetzigen französischen Präsidenten Emmanuel Macron bei seiner „Gedenk-Rundreise“, die ihn an jedem Tag dieser Woche an einstige Kriegsschauplätze im Norden und Osten des Landes führt. Ihr Auftakt war ein gemeinsamer Konzertbesuch mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Straßburger Münster. An der Seite von Bundeskanzlerin Angela Merkel und in Anwesenheit der deutsch-französischen Brigade wird Macron an diesem Samstag im Wald von Compiegne an den historischen Moment der Unterzeichnung des Waffenstillstands vor 100 Jahren erinnern. Als Höhepunkt der Gedenkwoche folgt am Stichtag am 11. November, der in Frankreich ein Feiertag ist, eine internationale Zeremonie mit mehr als 60 Staats- und Regierungschefs aus der ganzen Welt – unter ihnen die Präsidenten Russlands und der USA, Wladimir Putin und Donald Trump, sowie Merkel. Die Kanzlerin wird die Eröffnungsrede für ein „Forum für den Frieden“ halten, welches zu einer jährlichen Veranstaltung werden soll.
Um nicht nur im geschichtlichen Gedenken zu verharren, hat der französische Staatschef außerdem Begegnungen mit Schülern sowie Besuche unter anderem in einer Autofabrik und einem Altersheim vorgesehen. Mit dieser großen Aufmerksamkeit für das ländliche Frankreich möchte Macron zeigen, dass er kein „Präsident der Reichen“ und nicht nur ein „Präsident der Städte“ ist, wie ihm seine Gegner vorwerfen, sondern nah bei den Menschen – welche diesen Eindruck schon länger nicht mehr von ihm haben.
Wie sein Vorgänger François Hollande misst auch er symbolkräftigen Gesten an historischen Gedenktagen und Lektionen aus der Geschichte eine große Bedeutung zu. In einem Interview mit der Regionalzeitung „Ouest France“ sagte Macron, unsere heutige Zeit und jene zwischen beiden Weltkriegen zeigten verblüffende Ähnlichkeiten auf. „Europa steht vor einem Risiko: durch die nationalistische Lepra zu zersplittern und von äußeren Kräften umgestoßen zu werden. Und damit seine Souveränität zu verlieren“, warnte er, der in einem Radio-Interview den Aufbau einer „richtigen europäischen Armee“ forderte.
So versucht der 40-jährige Präsident, aus dem historischen Gedenken eine aktuelle Botschaft mit Blick auf die Europa-Wahlen im Mai nächsten Jahres zu formen. Bereits im Präsidentschaftswahlkampf hatte er gegenüber seiner Hauptrivalin, der Rechtspopulistin Marine Le Pen, argumentiert, die vielen Soldatenfriedhöfe in seiner nordfranzösischen Heimatregion müssten auf ewig eine Warnung vor einer nationalistischen Politik sein. „Wir haben zwar den Krieg gewonnen, aber den Frieden verloren. Denn dieser Sieg baute auf der Erniedrigung des deutschen Partners auf“, sagte er kürzlich. „Der Vertrag von Versailles hat die späteren Frustrationen vorbereitet. Man gewinnt nichts durch die Erniedrigung des anderen.“
Tatsächlich ist der sogenannte „Große Krieg“ in den französischen Köpfen noch immer sehr präsent, was sich unter anderem aus den umfangreichen Zerstörungen und der immensen Zahl von Toten – alleine auf den Schlachtfeldern starben 1,4 Millionen Soldaten – und Verletzten erklärt. Auch deshalb kritisierten einige Vertreter der Armee sowie der Konservativen Macron trotz seines umfangreichen Gedenkprogramms dafür, am Sonntag keine Militärparade auf den Champs-Élysées abzuhalten. Französischen Medien zufolge liegt diese Entscheidung im Bemühen begründet, Kanzlerin Merkel nicht mit einer zu „militarisierten“ Zeremonie mit dem Beigeschmack einer triumphalen Siegesfeier zu irritieren.