Hunderte Meter lang ist die Schlange der Wartenden vor jener Halle, in der sich ihr weiteres Schicksal entscheidet. Die Ersten haben sich hier schon seit dem frühen Morgengrauen angestellt. Sie sind bereit, dem Aufruf der französischen Regierung zu folgen und in einen der Busse zu steigen, die sie wegbringen aus Calais. Weg aus dem wilden Flüchtlingslager, das alle „Dschungel“ nennen.
Weg aus dem Schmutz, der Kälte und der resignierten Stimmung, die hier herrscht. Und auf in eine ungewisse Zukunft in einem der 287 Erstaufnahmelager in ganz Frankreich. Dort sollen sie vorerst untergebracht und individuell beraten werden, bis sie einen Asylantrag stellen – oder ihre Abschiebung ansteht.
Nachdem es in der Nacht zu vereinzelten Ausschreitungen zwischen Polizei, Aktivisten der Organisation „No borders“ („Keine Grenzen“) und Flüchtlingen gekommen war, begann am Montag ohne größere Zwischenfälle die Auflösung des Flüchtlingslagers in der nordfranzösischen Hafenstadt Calais. Rund 60 voll besetzte Busse starteten im Viertelstunden-Takt; auch heute (Dienstag) und die nächsten Tage wird die Aktion fortgesetzt und parallel die Zelt- und Hüttenstadt abgebaut.
Zuletzt hausten 6500 bis 8000 Flüchtlinge, davon mehr als 1000 Minderjährige, in dem großflächigen Slum, der einige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt und nahe des Fährhafens und des Eurotunnels liegt.
Ihre genaue Zahl kennt keiner, auch nicht die ehrenamtlichen Helfer, die seit Jahren das Nötigste für die Mittellosen heranschaffen: Nahrung, Decken, Schuhe, medizinische Betreuung. Die angespannte Situation drohte sich mit der Kälte zu verschärfen. „Wir sind froh, den Dschungel zu verlassen“, sagte gestern der 23-jährige Sudanese Adam Nureddine. „Aber wir haben Angst, nach Italien zurückgeschickt zu werden, wo wir unsere Fingerabdrücke hinterlassen haben.“
Überwiegend aus dem Sudan, Eritrea und Äthiopien stammend, wollten die meisten Flüchtlinge über den Ärmelkanal eigentlich nach Großbritannien gelangen, wo sie oft bereits Familie oder Freunde haben, die Sprache sprechen oder sich bessere Jobchancen ausrechnen. Doch da die britischen und französischen Behörden im Zuge der Flüchtlingskrise die Kontrollen verschärften, wurde die illegale Überfahrt immer schwieriger und riskanter. Viele versuchten die Überreise monatelang vergeblich, sind längst zermürbt und auch deshalb bereit zur Abreise; immer wieder starben Flüchtlinge, die auf der Schnellstraße, die zum Tunnel führt, von Lastwagen oder Autos erfasst wurden.
Als Präsident François Hollande vor einem Monat die Hafenstadt – nicht aber den „Dschungel“ selbst – besuchte, kündigte er die Auflösung des Lagers an und versprach gerechte Alternativlösungen: Asylberechtigte dürften bleiben, alle anderen müssten gehen. Hollandes Eingreifen mag durch den beginnenden französischen Wahlkampf mit bedingt gewesen sein. Doch tatsächlich war die Situation nicht mehr haltbar– nicht für die Flüchtlinge, obwohl die Regierung im vergangenen Jahr vor Ort zumindest ein Aufnahmezentrum für Frauen und Kinder sowie Container mit Schlafplätzen für Männer errichten ließ. Aber auch nicht für die Stadt Calais und ihre Bewohner, die sich seit Jahren vom französischen und dem britischen Staat alleingelassen fühlen.
Die Situation belastet auch die Beziehungen zwischen Paris und London, die jeweils auf die Verantwortung des anderen verweisen. „Ich fordere Großbritannien auf, seine moralische Pflicht zu erfüllen“, sagte der französische Innenminister Bernard Cazeneuve gestern.
Zumindest durften in der letzten Woche 200 Minderjährige, die Angehörige in Großbritannien haben, dorthin ausreisen, und die Gespräche über weitere Aufnahmen von Kindern und Jugendlichen gingen „in die richtige Richtung“, hieß es.
Hilfsorganisationen begrüßen überwiegend die Räumung, da sie den Flüchtlingen wenigstens ein Dach über dem Kopf bringen soll, äußern aber auch Bedenken. „Niemand kann für den Erhalt des Slums sein“, sagt Pierre Henry von der Vereinigung „France Terre d' Asile“ („Frankreich, Land des Asyls“). „Aber wir brauchen angemessene Lösungen für diese Männer und Frauen.“
In den vergangenen Wochen versuchten Ehrenamtliche sowie Sozialarbeiter, die Flüchtlinge vorab zu informieren und sie zu überzeugen, den Traum von einem Leben in Großbritannien aufzugeben. Nicht immer gelingt das – und viele befürchten die Entstehung neuer Ghettos rund um Calais, auch wenn es den „Dschungel“ nicht mehr gibt.