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SMOLENSK
Flugzeugabsturz 2010: Mordgerüchte um Kaczynski
Flugzeugabsturz: Die Hintergründe des Unglücks, bei dem am 10. April 2010 der polnische Präsident Lech Kaczynski ums Leben kam, sind noch immer nicht endgültig aufgeklärt.
Flugzeugabsturz 2010: Mordgerüchte um Kaczynski
Michael Czygan
 |  aktualisiert: 24.05.2022 09:38 Uhr

Zum fünften Mal jährt sich an diesem Freitag der Absturz der polnischen Präsidentenmaschine über dem russischen Smolensk. Die Nachricht vom Tod von 96 Menschen, darunter der polnische Präsident Lech Kaczynski, schockte das ganze Land. Zusammen mit höchsten Vertretern des Militärs, des Parlaments und des politischen Lebens war er auf dem Weg zu einer Gedenkfeier für die Opfer von Katyn, jener 22 000 Polen, die 1943 vom sowjetischen Geheimdienst hingerichtet worden waren. Doch die Tupolew verunglückte beim Landeanflug. Offizielle Stellen gehen von einem Pilotenfehler im Nebel aus. Für den langjährigen Solidarnosc-Berater Marek Mlynarczyk hingegen war der Absturz „zu 99 Prozent Mord“. Der Journalist Jürgen Roth veröffentlicht in einem eben erschienenen Buch Hinweise auf einen Sabotageakt des russischen Geheimdiensts.

Solche Spekulationen heizen die Ängste vieler Polen vor der russischen Außen- und Militärpolitik unter Wladimir Putin an. Mafia-Experte Roth (60) stellt in dem Buch „Verschlussakte S.“ die Frage, was wohl passiert wäre, wenn die Tupolew nicht 2010, sondern heute, mitten in der „propagandistisch aufgeladenen Stimmung zwischen Russland und Europa beziehungsweise den USA“ abgestürzt wäre. Das Unglück hätte der Funke sein können, um einen „heißen Krieg“ auszulösen. 2010 sei die Konfrontation zwischen Polen und der Europäischen Union auf der einen und Russland auf der anderen Seite nicht so stark gewesen. Nicht zuletzt deshalb habe der polnische Regierungschef Donald Tusk, der liberale politische Gegenspieler des ultrakonservativen Anti-Kommunisten Lech Kaczynski, kein Interesse an einer wirklich unabhängigen Untersuchung des Flugzugabsturzes gehabt.

Eine Einschätzung, die Marek Mlynarczyk teilt. Der 63-Jährige lebt seit den 80er Jahren in Würzburg und versucht von dort aus, Zeugenhinweise und Dokumente zu sichten und zu sammeln, die die These von einem Anschlag untermauern. Jurist Mlynarczyk sieht auch klare Motive. Lech Kaczynski sei für „Putin und seine Geheimdienst-Leute“ ein „Feind“ gewesen. Im Gegensatz zu Tusk und seinen Mitstreitern, die mehr auf „Anpassung“ gesetzt hätten, habe Kaczynski als „selbstbewusster polnischer Patriot“ dem mächtigen Nachbarn unter anderem in der Energiepolitik die Stirn geboten. Legendär sei der Auftritt Kaczynskis im Sommer 2008 in Tiflis gewesen. Nach den Militärattacken Moskaus auf Südossetien und Abchasien habe er sich „noch vor Merkel und Sarkozy“ öffentlich an die Seite Georgiens gestellt. Ohne Kaczynski, glaubt Mlynarczyk, gebe es vermutlich kein selbstständiges Georgien mehr. Deshalb habe er sterben müssen. Wie recht der abgestürzte Präsident mit seinen Warnungen vor Wladimir Putin gehabt habe, zeige sich heute in der Ukraine.

Der 63-Jährige steht mit seiner Haltung, dass Russland für den Tod der 96 Passagiere verantwortlich ist, nicht allein. Laut einer aktuellen Umfrage glauben 32 Prozent der Polen, dass ein Anschlag als Absturzursache möglich ist, unter den Anhängern von Kaczynskis Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) sogar 57 Prozent. Und über die Parteigrenzen hinweg meinen 77 Prozent der Polen, ihre Regierung habe nicht alles zur Aufklärung der Katastrophe unternommen. Dass in einigen Fällen die sterblichen Überreste der Absturzopfer falsch identifiziert wurden, wie Exhumierungen und DNA-Analysen ergaben, wird als Bestätigung absichtlicher russischer Irreführung ausgelegt – und nicht etwa der Tatsache geschuldet, dass angesichts der Wucht des Aufpralls in vielen Fällen eine exakte Identifizierung der Toten schwierig gewesen sein dürfte.

Der PiS-Abgeordnete Antoni Macierewicz leitet einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Smolensk-Absturz. Er kam jetzt zu dem Schluss, es habe eine Explosion an Bord gegeben. Auch Jürgen Roth behauptet dies. Er sei im Besitz zweier Berichte, in denen Quellen dem deutschen Bundesnachrichtendienst (BND) von Sprengstoff an Bord des Flugzeugs berichten, sagt der Publizist im Gespräch mit dieser Zeitung. Der BND dementiert diese Darstellung. Das angebliche Dokument, aus dem Roth zitiert, sei bei einer „kurzfristig angestrengten hausweiten Suche“ nicht gefunden worden, so ein Sprecher. Man schließe nicht aus, dass Roth einer Fälschung aufgesessen ist. Den Autor ficht das nicht an. Es gebe auch Hinweise, so sagt er, dass ein Sprengstoff-Spürhund, der die Präsidentenmaschine vor dem Start in Warschau durchsucht habe, auf halber Strecke abgezogen wurde. Verdächtig sei zudem, dass Teile der Tupolew, die man nach dem Absturz auf Sprengstoff hätte untersuchen können, rasch verschrottet wurden. Das übrige Wrack ist bis heute nicht von Russland an Polen zurückgegeben worden. Ermittler in Moskau werfen derweil der polnischen Seite vor, Fragen zur Aufklärung nicht beantwortet zu haben.

Unterdessen hofft Marek Mlynarczyk, dass es fünf Jahre nach dem Absturz doch noch zu einer Untersuchung durch europäische Behörden kommt. Schließlich hat das Europäische Parlament dieser Tage Russland mit deutlichen Worten nicht nur zur Aufklärung des Mordes an dem Oppositionspolitiker Boris Nemzow aufgefordert, sondern dabei erstmals auch offene Fragen im Fall Smolensk erwähnt. „Es scheint so, als wird der Westen endlich wach“, sagt der Jurist. Autor Jürgen Roth sieht sein Buch ebenfalls als „Treibstoff“, um „Putins Politik der Lügen“ zu entlarven.

Mit Informationen von dpa

Buchtipp: Jürgen Roth: „Verschlussakte S. Smolensk, MH17 und Putins Krieg in der Ukraine“, 320 Seiten, Econ-Verlag, 19,99 Euro

 
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