Die „heiße Spur“ bei der Jagd nach dem Mörder des Kremlkritikers Boris Nemzow führt die russischen Ermittler in den Nordkaukasus. In Windeseile und abgeschirmt von der Öffentlichkeit nehmen die Sicherheitskräfte fünf Verdächtige aus der islamisch geprägten Unruheregion fest. Einer bekennt sich schuldig, an der schweren Bluttat beteiligt gewesen zu sein – Kremlgegner mutmaßen einen Coup der unter Druck stehenden Ermittler. Die schwere Bluttat hatte nicht nur Russland schockiert, sondern auch den Westen erschüttert.
Weggefährten des ermordeten Oppositionspolitikers Nemzow zweifeln an einer schnellen Aufklärung des Verbrechens. „Es ist schwer zu beurteilen, ob das wirklich die Täter sind oder ob die Untersuchungen auf dem Holzweg sind“, kommentiert der Oppositionelle Ilja Jaschin. „Am wichtigsten aber ist, dass es nicht bei der Festnahme von Schützen bleibt. Die Hauptaufgabe ist, die Auftraggeber zu finden“, mahnt Jaschin.
Der 55-jährige Nemzow, einst Vizeregierungschef unter Präsident Boris Jelzin, war einer der schärfsten Kritiker von Präsident Wladimir Putin. Bereits kurz nach dem Mord in der Nacht zum 28. Februar in Sichtweite der roten Kremlmauer gingen die Ermittler von einem politisch motivierten Auftragsmord aus. Oppositionelle vermuten die Drahtzieher im direkten Umfeld des Kremls.
Theorien wurden viele lanciert. Über eine Verbindung zur Ukrainekrise wurde spekuliert, weil Nemzow als Gegner der russischen Ukraine-Politik galt. In Erwägung gezogen wurde auch eine Tat von Ultranationalisten, um die prowestliche Opposition zu schwächen. Auch ein islamistisches Verbrechen hält die Polizei für möglich, weil Nemzow Morddrohungen aus dieser Richtung erhalten haben soll.
Dass die Ermittler nun eine „kaukasische Spur“ verfolgen, erfüllt Beobachter mit Argwohn. „Allein ein kaukasischer Name der Verdächtigen sagt noch gar nichts aus“, meint Alexej Makarkin vom Moskauer Zentrum für Polittechnologie. Auch im Fall der 2006 ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja habe es eine Spur in den Kaukasus gegeben, doch die Tat sei noch immer nicht abschließend aufgeklärt, erinnert er. Im Fall Politkowskaja wurden fünf Männer wegen Verwicklungen in den Mord zu langen Haftstrafen verurteilt. Die Auftraggeber des Mordes sind aber weiterhin unbekannt.
Die russischen Ermittler stehen unter Druck: Der Westen, auch die Bundesregierung, hat eine transparente und lückenlose Aufklärung des Mordfalls Nemzow gefordert. Der Ablauf der Ermittlungen gebe indes „keinen Anlass zu Optimismus“, findet Oppositionspolitiker Jaschin.
Dutzende Journalisten stehen am Sonntag bei Nieselwetter vor dem Gerichtsgebäude in Moskau, wo die fünf Verdächtigen in Untersuchungshaft genommen werden. Nur langsam tröpfeln Informationen über die Jagd der Ermittler und die Verdächtigen an die Öffentlichkeit.
Wenig ist zunächst bekannt, außer dass sie aus dem Nordkaukasus kommen und teils Berufserfahrung in staatlichen oder privaten Sicherheitsorganen haben. Das Staatsfernsehen interviewt die fassungslose Mutter eines der Männer. „Dass mein Sohn jemanden tötet, kann ich nicht glauben“, sagt sie.
Fassungslosigkeit herrscht weiter auf der Brücke beim Kreml, wo Nemzow erschossen worden war. Noch immer pilgern täglich Moskauer zum Tatort. Manche bekreuzigen sich, andere legen frische Blumen auf den Berg der alten Blumensträuße, die Trauernde in den vergangenen Tagen mitgebracht hatten.
Eine von ihnen ist Lena (35). „Es war ein sehr lauter Mord, der viel Aufmerksamkeit erregt hat», sagt sie. Bei der Arbeit werde noch immer viel darüber gesprochen. «Es ist eine menschliche Anteilnahme an einem schlimmen Verbrechen“, sagt sie zur Trauerstimmung in Moskau. „Satschem?“ – Weshalb? – steht auf einem Zettel am Blumenberg, der noch eine Woche nach dem Mord den Schock der Menschen wegen der Bluttat ausdrückt. Ob es bald eine Antwort auf die Frage gibt, ist auch nach der Festnahme der Verdächtigen weiter offen.