„Ich kann nicht sagen, was sich drinnen abgespielt hat. Es gibt keine Worte für diesen Horror”, sagt Krankenpfleger Lajos Zoltan Jecs. Samstagnacht haben Jecs und andere Mitarbeiter von „Ärzte ohne Grenzen“ in der Unfallklinik in der nordafghanischen Stadt Kundus gearbeitet, als die Klinik mehr als eine Stunde lang offenbar von US-Kampflugzeugen bombardiert wird. Mindestens 19 Menschen sterben, fast 40 werden verletzt. Am Sonntag erklärt die Hilfsorganisation ihren Rückzug aus Kundus. Das Krankenhaus sei nicht mehr länger funktionsfähig, sagt eine Sprecherin. US-Präsident Barack Obama kündigte eine Untersuchung des Vorfalls an. Die Vereinten Nationen erklärten, die Bombardierung könnte ein Kriegsverbrechen darstellen.
Bei dem nächtlichen Luftangriff werden große Teile der Klinik zerstört. Auf der Intensivstation seien sechs Patienten in ihren Betten verbrannt, weil sie nicht fliehen konnten, erzählt Krankenpfleger Jecs. Im Operationssaal habe ein Patient tot auf dem Operationstisch gelegen, um ihn herum nichts als Trümmer. Ein schwer verletzter Arzt sei auf seinem Schreibtisch notoperiert worden, habe aber nicht überlebt. Es sei schrecklich gewesen, die eigenen Kollegen tot oder schwer verletzt zu sehen. „Wie kann so etwas passieren?”, fragt Jecs.
„Ärzte ohne Grenzen“ erklärte, die GPS-Koordinaten des medizinischen Zentrums in Kundus seien „an alle beteiligten Konfliktparteien, Washington und Kabul eingeschlossen“, weitergegeben worden. Dieses Vorgehen ist allgemein üblich, um in Kriegsgebieten zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser zu schützen. Zudem soll das Krankenhauspersonal in Kundus militärische Stellen in Kabul und Washington per Telefon davon informiert haben, dass die Klinik angegriffen werde. Dennoch sei mehr als eine Stunde lang in Abständen von 15 Minuten bombardiert worden. Der Angriff auf das Krankenhaus sei eine schwere Verletzung internationalen Rechtes, erklärt die Hilfsorganisation. Die menschlichen Verluste könnten nicht als „Kollateralschaden” abgetan werden. Es seien zwölf Mitarbeiter und mindestens sieben Patienten, darunter drei Kinder, getötet worden. Die aufständischen Taliban haben in der vergangenen Woche die Kontrolle über die strategisch wichtige Provinzstadt übernommen. Seither versucht die afghanische Armee, unterstützt durch Nato und amerikanisches Militär, die Stadt zurückzuerobern. Auch am Sonntag wird in den Straßen gekämpft. Seit Mitte der Woche bombardieren US-Kampfflugzeuge Stellungen der Taliban.
Seit Beginn der Kämpfe vor einer Woche hat das bombardierte Krankenhaus laut „Ärzte ohne Grenzen“ 394 Verwundete behandelt. Zur Zeit des Luftangriffes hätten sich 105 Patienten und 80 Mitarbeiter im Hospital befunden. Die Hilfsorganisation weist Anschuldigungen des afghanischen Innenministeriums zurück, es hätten sich auch Taliban-Kämpfer in der Klinik befunden. Saad Mukhtar, der Chef des Gesundheitsamtes in Kundus, sagt, die Taliban hätten Regierungsstellen Falschinformationen zukommen lassen, dass ihre Kämpfer dort behandelt würden. Daraufhin sei die Klinik bombardiert worden. „Ärzte ohne Grenzen“ betrieb die Klinik in Kundus seit mehr als einem halben Jahrzehnt.
Medizinische Hilfe
Ärzte ohne Grenzen ist eine unabhängige internationale Organisation für medizinische Nothilfe. Die Organisation wurde 1971 in Frankreich unter dem Namen „Médicins Sans Frontieres (MSF)“ gegründet. Sie leistet kostenlose medizinische Hilfe in Konflikt- und Krisenregionen und ist derzeit in rund 70 Ländern der Welt aktiv. 1999 erhielt die Organisation den Friedensnobelpreis. Beispiele für Einsatzgebiete sind Nepal nach dem schweren Erdbeben im April oder Westafrika während der Ebola-Epidemie.
Die Organisation ist außerdem im Mittelmeer im Einsatz, um Flüchtlinge zu retten. Sie behandelt nach eigenen Angaben hilfsbedürftige Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, Religion, politischen Gesinnung oder ihrem Geschlecht. Private Spenden, Zuwendungen und öffentliche Mittel finanzieren die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen. 2014 lagen die Einnahmen bei 121,1 Millionen Euro. Text: dpa