Recep Tayyip Erdogan ist Widerspruch nicht gewohnt. „Reis“ – Anführer – wird er von seinen Gefolgsleuten genannt: Aus dem Wort spricht bedingungslose Loyalität. Dass jetzt ausgerechnet sein alter Weggefährte, Ex-Präsident Abdullah Gül, öffentlich Kritik an der Regierung übt, hat das politische Ankara in Aufruhr versetzt.
Schon wird der als Reformer und überzeugter EU-Unterstützer bekannte Gül als Gegenkandidat gegen Erdogan bei der Präsidentschaftswahl 2019 gehandelt. Güls Unzufriedenheit mit dem autokratischen Kurs seines Nachfolgers ist kein Geheimnis. Jetzt ist Gül einen entscheidenden Schritt weitergegangen. Auf Twitter wandte er sich gegen ein neues Dekret, das Erdogan-Anhängern bei Gewalt gegen mutmaßliche Staatsfeinde volle Straffreiheit zusichert. Die Regierung betont, die Regelung gelte lediglich für die Tage des Putschversuchs von 2016, doch die Opposition befürchtet, die Regierung wolle ihre eigenen Milizen aufbauen.
Eine bewusste Herausforderung
Erdogan verwahrte sich gegen die Kritik seines Vorgängers, doch Gül erwiderte per Twitter, er werde auch weiter seine Meinung sagen. Gül habe Erdogan damit bewusst herausgefordert, sagt der Journalist Rusen Cakir, einer der besten Kenner der von Erdogan und Gül einst gemeinsam gegründeten Regierungspartei AKP. Mit seiner Twitter-Äußerung habe Gül zudem dem ganzen Land gezeigt, dass er die größtenteils von Erdogan kontrollierten Medien umgehen könne, sagte Cakir. Der 68-jährige Gül hat in der AKP nach wie vor viele Freunde, weshalb Erdogan ihn nicht einfach als Verräter abkanzeln kann. Noch wichtiger ist, dass die Kritik des Ex-Präsidenten die Unzufriedenheit in der Regierungspartei mit Erdogans Politik sichtbar macht.
Wiederwahl unsicher
Laut Umfragen ist eine Mehrheit für Erdogan bei der Präsidentenwahl, bei der er mindestens 50 Prozent der Stimmen braucht, sehr unsicher. Erdogan hatte mit der Entlassung namhafter Lokalfürsten der AKP versucht, die Partei auf Linie zu bringen. Dieser Versuch ist gescheitert, wie Güls Kritik zeigt. Neue Risse in der AKP könnten Erdogans Wiederwahl gefährden.
Das Problem ist hausgemacht. Mit der geplanten Umstellung auf das Präsidialsystem habe sich die AKP selbst ein Bein gestellt, schrieb der Kolumnist Etyen Mahcupyan in der Zeitung „Karar“: Im neuen System brauche die Partei mehr als 50 Prozent für die Macht, während im parlamentarischen System ein weit geringerer Stimmenanteil für die Regierungsmehrheit ausreichte. Mahcupyan ist ein Ex-Berater des früheren Premiers Ahmet Davutoglu, der wie Gül zu den potenziellen AKP-Dissidenten zählt.