Jörg Ziercke erinnert sich noch gut, wie er vor dem Abgeordneten Sebastian Edathy saß. Es ging um die Morde der Zwickauer Terrorzelle, um ein mögliches Behördenversagen und um die brisante Frage, wer was über den nationalsozialistischen Untergrund wusste. Der aufstrebende Innenpolitiker Edathy war damals Vorsitzender des eigens eingerichteten Untersuchungsausschusses, mit der Aussage des Zeugen Ziercke aber offenbar nicht wirklich zufrieden. Wenn er irgendwann noch einmal einen Job brauche, soll er nach dessen Vernehmung abschätzig gesagt haben, gehe er auch zum Bundeskriminalamt (BKA).
Bis zu seiner Pensionierung im November war eben jener Ziercke BKA-Präsident und der vielleicht angesehenste Polizist des Landes. Nun sitzt er wieder vor einem Untersuchungsausschuss des Bundestages und erzählt, was er damals, im Sommer 2012, über Edathy gedacht hat. Arrogant sei der ihm gegenüber aufgetreten, desinteressiert und überheblich, erregt sich Ziercke. Warum also soll ausgerechnet er Edathy auf Umwegen über die Ermittlungen wegen des Besitzes von kinderpornografischem Material auf dem Laufenden gehalten haben? Einen Menschen, den er von Anfang an unsympathisch gefunden habe? Eine absurde Verschwörungstheorie sei das, betont Ziercke, schenkt sich einen Schluck Wasser nach und fragt dann provozierend in die Runde: „Wie verrückt ist denn das?“
Nach Ziercke wird der Untersuchungsausschuss an diesem Nachmittag den Zeugen Edathy ein zweites Mal vernehmen. Zunächst allerdings weist Ziercke in einem gut 40 Minuten langen Monolog alle Spekulationen zurück, er könne womöglich doch über die Ermittlungen geplaudert und damit ein Dienstgeheimnis verraten habe. Ja, räumt er ein, er habe sich wie mit vielen anderen Politikern auch regelmäßig mit dem SPD-Abgeordneten Michael Hartmann getroffen, von dem Edathy behauptet, er habe ihm seine Informationen gesteckt.
Eine Art Realitätsverlust?
Niemals jedoch sei in diesen Gesprächen die rote Linie übertreten worden, jenseits der er seine Amtspflichten verletzt hätte. Die eidesstattliche Versicherung, in der Edathy behauptet, Ziercke persönlich sei Hartmanns Informant gewesen, habe nur Öffentlichkeit und Medien beeindrucken sollen, argwöhnt Ziercke, der ebenfalls Mitglied der SPD ist. Juristisch habe sie keinerlei Relevanz.
Ohne dieses Papier, spekuliert er, hätte der frühere Abgeordnete die Geschichte mit Hartmann nie und nimmer an die Illustrierte „Stern“ verkaufen können, als Teil einer großen Inszenierung, in der das Bundeskriminalamt und sein Präsident „den bequemen Blitzableiter“ spielen sollten. Menschen wie Edathy, sagt Ziercke, lebten in zwei Welten und litten häufig unter einer Art Realitätsverlust.
Anstatt Beweise vorzulegen konstruiere der 45-Jährige „scheinlogische Zusammenhänge“, unfähig, sich einzugestehen, dass er selbst durch sein Verhalten seinen politischen Untergang zu verantworten habe. Entscheidend allerdings ist für Ziercke etwas anderes: Nachdem Ende 2013 einige Medien über die Ermittlungen gegen die kanadische Firma berichtet hatten, bei der auch Edathy Fotos und Filme von nackten Jungen bezogen hatte, sei dieser längst gewarnt gewesen. Daher habe es gar keines Informanten im BKA mehr bedurft.
Der Untersuchungsausschuss des Bundestages, der einen möglichen Geheimnisverrat aufklären soll, tritt damit weiter auf der Stelle. „Es steht Aussage gegen Aussage“, klagt die Vorsitzende Eva Högl von der SPD. Ihr Parteifreund Edathy bleibt bei seiner Version, der Kollege Hartmann behauptet genau das Gegenteil, offenbarte bei seiner Aussage Mitte Dezember aber große Wissenslücken – und auch nach der Vernehmung des Zeugen Ziercke bleibt noch die eine oder andere Frage offen.
Wurde der Computer gestohlen?
Gibt es, womöglich, ein Leck in der niedersächsischen Justiz, durch das Informationen über den Stand der Ermittlungen an Edathy flossen? Gab es in der SPD vielleicht mehr Mitwisser als bisher angenommen, von denen einer einen direkten Draht zu Edathy hatte?
Und, nicht zuletzt: Wurde ihm sein tragbarer Computer tatsächlich während einer Bahnfahrt gestohlen, wie er nach wie vor behauptet – oder hat er ihn beiseitegeschafft, weil sich darauf noch belastendes Material befand?
Jörg Ziercke jedenfalls hat an Edathys Version so seine Zweifel: Diese Geschichte, sagt er, sei „mehr als dubios“.