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BRÜSSEL
Europas Angst vor einer neuen Fluchtwelle
Detlef Drewes
Detlef Drewes
 |  aktualisiert: 13.11.2016 03:42 Uhr

Massenverhaftungen, massive Schläge gegen kritische Journalisten und Medien – die Türkei setzt sich zunehmend von den Forderungen der EU nach einem demokratischen Rechtsstaat ab. Nur beim Flüchtlingsdeal, so wird die Brüsseler EU-Kommission in ihrem Türkei-Bericht am Mittwoch behaupten, funktioniere alles reibungslos. Noch – denn Ankaras Außenminister hat den Europäern bereits gedroht: Sollte es keine Visaliberalisierung geben, ist das Abkommen hinfällig. Droht eine neue Fluchtwelle?

Was hat der Flüchtlingsdeal seit März wirklich gebracht? Wurde die Zuwanderung tatsächlich gestoppt?

Die offiziellen Zahlen sprechen eine andere Sprache. Seit März 2016 sind rund 15 000 Flüchtlinge über die Ägäis gekommen. Aber nur etwa 580 wurden in die Türkei zurückgeschickt. Lediglich rund 300 durften anschließend – wie ursprünglich vereinbart – legal in die EU weiterreisen. Im Januar dieses Jahres registrierte das UN-Flüchtlingshilfswerk noch 70 000 Menschen, die mit Booten aus der Türkei Richtung Europa flohen. Im Mai waren es lediglich 1721, im August aber schon wieder 3447. Seither steigen die Zahlen weiter an.

Warum funktioniert die vereinbarte Lösung nicht?

Die Abarbeitung der Asylanträge auf den griechischen Inseln dauert viel länger als erwartet. Deshalb stauen sich die Flüchtlinge dort. Derzeit sind es nach offiziellen Angaben rund 14 000, obwohl nur 7000 Plätze vorhanden sind. Nun erwägt die Athener Regierung, rund 7000 Menschen aufs Festland zu lassen. Der Erfinder des EU-Türkei-Deals, der Migrationsforscher Gerald Knaus, nennt dies das falsche Signal: „Alleine mit der Ankündigung riskiert man, den Schleppern ein starkes Argument zu liefern. Die sagen den Flüchtlingen: ,Versucht es wieder, die Inseln sind nicht die Endstation.'“ Griechenland müsste also die Abarbeitung der Anträge beschleunigen und dann auch wirklich zurückschicken. Solange das nicht der Fall ist, sprechen Experten sogar von einer leeren Drohung Ankaras, weil diese Zahlen keinen Rückschluss auf ein Überschwemmen Europas zulassen.

Dennoch sind viele Mitgliedstaaten bereits nervös.

Das stimmt: Österreich und die Balkanländer verstärken bereits ihren Grenzschutz. Der österreichische Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil sagte vor wenigen Tagen: „Unser vordringliches Ziel muss es sein, die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren.“

Die Forderung nach einem Aussetzen der Beitrittsverhandlungen wird immer lauter. Kann die EU wirklich so weitermachen wie bisher und die Gespräche fortführen, als sei nichts geschehen?

Innerhalb der EU gibt es beide Seiten. Die einen fordern einen Abbruch der Aufnahmegespräche, andere warnen genau davor, um den türkischen Präsidenten nicht unnötig zu provozieren. Die EU-Kommission verweist auf die Mitgliedstaaten und die wiederum auf Brüssel. Richtig ist: Die EU-Kommission hat den Auftrag, mit Ankara diese Beitrittsverhandlungen zu führen. Sie kann diese nicht aus eigener Entscheidungsgewalt abbrechen. Dies müssten die Staats- und Regierungschefs tun. Bisher tritt nicht einmal die deutsche Kanzlerin dafür ein.

Warum nicht? Hat man Angst vor der Türkei? Oder scheut die EU den politischen Konflikt?

Viele europäische Außenpolitiker halten Gespräche für sinnvoll, weil sie auch ein Hoffnungszeichen für die türkische Bevölkerung seien. Dahinter steht der Gedanken, man könne durch Dialog auf Präsident Recep Tayyip Erdogan einwirken. Andererseits braucht Europa die Zusammenarbeit mit Ankara aber auch. In diesen Tagen wird weiter über die Wiedervereinigung der geteilten Mittelmeer-Insel Zypern beraten. Die Türkei ist die Schutzmacht über den besetzten Nordteil, der Südteil gehört schon zur EU. Ohne Billigung Ankaras wird es da zu keinen Fortschritten kommen. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass die Türkei ein wichtiges Mitglied der Nato ist und man das Land auch in diesem Kreis als Partner braucht, weil es strategisch wichtig ist.

 
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