Nach der Wahlschlappe für die AKP in der Türkei stehen mit der Bildung einer neuen Regierung auch außenpolitische Neuorientierungen an. So könnte es im zuletzt sehr strapazierten Verhältnis zur EU Korrekturen geben, insbesondere wenn der ruppige Stil von Präsident Recep Tayyip Erdogan nicht mehr wie bisher die verbindliche Marschroute darstellt. Allerdings ist nicht damit zu rechnen, dass die Türkei über Nacht zu einem entschiedenen Reformkurs zurückkehrt. Überzeugte EU-Anhänger sind selten geworden in Ankara.
Aus europäischer Sicht ist das türkische Wahlergebnis eine positive Entwicklung, weil Brüssel mit der als arrogant und autoritär empfundenen Einparteienregierung der AKP zuletzt nicht mehr viel anfangen konnte. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini begrüßte nach der Wahl ausdrücklich, dass alle wichtigen Parteien nun im Parlament von Ankara vertreten seien. Europa sei in den vergangenen Monaten wegen der „autoritären Entwicklung der türkischen Führung besorgt“ gewesen, schrieb der frühere EU-Botschafter in Ankara, Marc Pierini, in einem Beitrag für die Denkfabrik Carnegie Europe.
Reformprozess rückläufig
Offiziell unterstützt die AKP das Ziel der türkischen EU-Bewerbung, das in der ersten Phase der Regierungszeit von Erdogan vor zehn Jahren zu den Prioritäten der Türkei gehörte. Doch im politischen Alltag passiert nicht mehr viel. Der Reformprozess ist nicht nur zum Stillstand gekommen, viele Reformen sind in jüngster Zeit wieder einkassiert worden, zum Beispiel durch ein neues Polizeigesetz mit erweiterten Befugnissen für die Sicherheitskräfte.
Bei den Beitrittsgesprächen in Brüssel tut sich schon lange nichts mehr. Das liegt zum einen daran, dass die türkische Bewerbung in der EU umstritten ist. Zum anderen hat Erdogan so viele EU-Politiker vor den Kopf gestoßen, dass die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem Präsidenten stark zurückgegangen ist. Kritik des EU-Parlaments wurde von Erdogan zuletzt mit der Bemerkung abgetan, Beschlüsse der europäischen Parlamentarier gingen bei ihm an einem Ohr hinein und am anderen wieder hinaus.
Angesichts der Kräfteverhältnisse im neuen Parlament wird Erdogan künftig jedoch nicht mehr ohne Weiteres die Grundlinien der türkischen EU-Politik festlegen können. Ex-Botschafter Pierini zufolge wird die EU in der neuen Ära darauf achten, ob und wie schnell die von Erdogan und der AKP angerichteten Schäden am Rechtsstaat vom neuen Parlament und der neuen Regierung korrigiert werden und ob sich die Zustände in Sachen Meinungsfreiheit verbessern.
Erdogan wird an Einfluss verlieren
Samit Kohen, außenpolitischer Kommentator der Zeitung „Milliyet“, sagte unserer Redaktion, nach der Wahl gebe es tatsächlich Hoffnung auf Verbesserungen auf diesen Feldern. Wenn die neue Regierung politisch stark sei, werde Erdogans Meinung nicht mehr so viel zählen wie bisher, sagte er. Auch im Umfeld der AKP gibt es Forderungen nach einer Rückkehr zur Reformpolitik. Der für seine Nähe zu AKP-Mitgründer und Ex-Präsident Abdullah Gül bekannte Journalist Fehmi Koru etwa regte an, die AKP solle sich „auf die Fabrikeinstellung“ ihrer Anfangsjahre zurücksetzen: Damals war die AKP eine Reformkraft.
Der Außenpolitik-Experte Kohen warnt allerdings vor überzogenen Erwartungen. Fundamentale Änderungen in der Europapolitik werde es vorerst nicht geben, sagte er. Im Falle einer Regierungsbeteiligung der Nationalistenpartei MHP zum Beispiel sind von der Türkei keine neuen Initiativen beim Thema Zypern oder anderen Streitpunkten zu erwarten.
Ohnehin müssen die türkischen Parteien erst einmal klären, wie es in Ankara weitergehen soll. Bei den Vorüberlegungen zu möglichen Koalitionen spielt die Rolle Erdogans eine zentrale Rolle. Die bisherigen Oppositionsparteien werden bei einer Zusammenarbeit mit der AKP darauf bestehen, dass sich Erdogan künftig aus den Regierungsgeschäften heraushält. Diese Vorbedingung würde von Erdogan ein völlig neues Amtsverständnis erfordern – doch Zurückhaltung liegt dem machtbewussten 61-jährigen Präsidenten nicht.