Zum ersten Mal zieht die EU ihre schärfste Waffe gegen einen Mitgliedstaat in den eigenen Reihen: Polen soll wegen Rechtsstaat-Verstößen seine Stimmrechte auf europäischer Ebene verlieren. Doch Warschau reagiert gelassen. Schließlich ist unsicher, ob der Beschluss überhaupt umgesetzt werden kann.
Frans Timmermans klang am Mittwoch entmutigt. „Zwei Jahre haben wir alles Menschenmögliche versucht“, sagte der Vizepräsident der Europäischen Kommission. Das Thema Rechtsstaatlichkeit gehört zu seinem Ressort in der obersten EU-Behörde. Dreimal gingen Warnungen und blaue Briefe an die Regierung nach Warschau, weil Gesetzesvorhaben die Grundwerte der Demokratie auszuhöhlen drohten.
EU fordert Einhaltung von Regeln
Am Mittwoch war Schluss: „Es geht hier nicht um Polen, sondern um die gesamte Europäische Union“, betonte der Niederländer Timmermans. Und: „Jedes Mitgliedsland kann eine Justizreform umsetzen. Aber wenn man es tut, muss sich die Regierung an die eigene Verfassung und die EU-Gesetze halten.
“ Die nationalkonservative PiS-Regierung in Warschau erweiterte ihre Eingriffsmöglichkeiten auf die Justiz jedoch so weit, dass „sie de facto nicht mehr der Judikative unterworfen ist“, kommentierten die beiden Vorsitzenden der CDU- und der CSU-Abgeordneten im EU-Parlament, Daniel Caspary und Angelika Niebler. „Eine solch eklatante Verletzung der Gewaltenteilung als Kernelement eines Rechtsstaates kann nicht folgenlos bleiben.“
Die Kommission hatte bereits Mitte des Jahres gewarnt, sie stehe kurz vor Aktivierung des Artikels 7 des Lissabonner Vertrages. Am Ende dieses Verfahrens könnte Polen alle Stimmrechte in den EU-Gremien verlieren – das Land wäre quasi entmündigt. Als „Rauswurf zweiter Klasse“ bezeichneten Experten in den vergangenen Tagen diesen Weg, der wegen seiner weitreichenden Konsequenzen im Vokabular der EU-Beamten auch als „nukleare Option“ bezeichnet wird. Dennoch reagierte Warschaus Justizminister Zbigniew Ziobro unaufgeregt: „Ich nehme die Entscheidung mit Gelassenheit zur Kenntnis“, sagte er.
Der neue Ministerpräsident Mateusz Morawiecki meinte schon vorher nüchtern, es sei „das Vorrecht der Europäischen Kommission, das Verfahren einzuleiten.“ Er will sich Mitte Januar mit Präsident Jean-Claude Juncker zu einem Gespräch treffen.
Tatsächlich hat die oberste EU-Behörde Polen nämlich noch drei weitere Monate Schonfrist eingeräumt und konkret vorgegeben, was die Regierung tun könne, um das Verfahren zu stoppen: Die geplanten Änderungen des Pensionsalters für oberste Richter müssen entfallen. Richter sollen weiter aus den eigenen Reihen gewählt werden – anstatt mit einem Beschluss des Justizministers ins Amt zu kommen. Die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichtshofes muss sichergestellt sein. Außerdem sollen sich die Regierungsmitglieder aller Äußerungen enthalten, die die Legitimität der Justiz untergraben könnten.
Brüssel bezieht sich mit dieser Auflistung auf eine Kritik der sogenannten Venedig-Kommission, einer Einrichtung des Europarates, der nicht zur EU gehört, aber die Einhaltung von Demokratie und Menschenrechte überwacht. Auch der kam zu dem Ergebnis, dass wesentliche Grundwerte eines Rechtsstaates durch die insgesamt 13 Gesetze der polnischen Führung ausgehebelt werde.
Ein Veto ist jetzt schon sicher
Die EU-Kommission war in der Vergangenheit mehrfach wegen ihrer allzu großen Geduld mit Warschau gerügt worden. Nun bekam sie vor allem Unterstützung. Aber die Frage bleibt, ob das nun aktivierte Verfahren auch deswegen in Gang gesetzt werden konnte, weil die Kommission die Wirkungslosigkeit ihres Vorpreschens ahnt. Schließlich ist im letzten Schritt eine einstimmige Unterstützung aller Mitgliedstaaten (außer Polens) nötig. Die wird es nicht geben. Ungarn hat bereits angekündigt, sein Veto einzulegen. Andere dürften folgen. Dann steht Brüssel im Grunde hilflos da, weil es nichts mehr tun kann, um Polen zur Ordnung zu rufen.