Dieser Freitag könnte der Tag der Entscheidung werden. „Es kann alles passieren: Entweder es beginnt ein Wirtschaftskrieg oder wir schaffen einen Durchbruch“, sagte ein reichlich ermüdeter EU-Diplomat, als die EU-Mitgliedstaaten am Donnerstag nach mehrtägigen Beratungen endlich einen Beschluss gefasst hatten. Am heutigen Morgen treten die verschärften Strafen der Union gegen Russland in Kraft.
Die neuen Wirtschaftssanktionen richten sich unter anderem gegen russische Staatsbanken, Rüstungsfirmen und Unternehmen aus der Erdölförderung. Die EU will ihnen den Zugang zu europäischen Krediten erschweren. Zudem wird das Exportverbot für Technologie zur Erdölförderung ausgeweitet, ebenso die Beschränkungen zur Ausfuhr militärisch nutzbarer Güter.
24 weitere Personen belegte die EU bereits mit Konten- und Einreisesperren (insgesamt jetzt 119). Betroffen sind ostukrainische Separatisten und Meinungsführer aus der russischen Politik und Wirtschaft. Aber die EU boykottiert nicht nur, man lockt offenbar auch: Während die Strafmaßnahmen in Gang kommen, werden sich heute in Brüssel Vertreter der Union mit hochrangigen Politikern aus Russland und der Ukraine treffen. Wie Diplomaten am Donnerstag bestätigten, will man dabei offenbar ein „überraschendes Angebot“ auf den Tisch legen: Die EU scheint bereit, die Unterzeichnung des lange erwarteten Assoziierungsabkommens mit Kiew aufzuschieben.
Putin zu politischer Lösung bereit?
Das würde den russischen Unternehmen Zeit geben, sich darauf einzustellen, dass sie ab November ihre Geschäfte mit der Ukraine nach EU-Regeln abwickeln müssen. Der Vertrag soll eigentlich in der kommenden Woche im Europäischen Parlament unterschrieben werden. Eine Verschiebung als letztes Angebot der Union an Moskau, die Eskalation zu verhindern? Angeblich gibt es dafür sogar „Signale“ aus dem Kreml: Präsident Wladimir Putin habe die EU wissen lassen, er sei zu einer „politischen Lösung“ bereit, wenn das Assoziierungsabkommen zunächst einmal vom Tisch sei, hieß es gestern. Darauf hofft man in Brüssel.
„Wir wollen einen sanften Weg der Verständigung gehen“, betonte gestern ein ranghohes Mitglied des Auswärtigen Dienstes. „Am liebsten wäre uns, wenn wir die Sanktionen am Freitagabend wieder aussetzen könnten, weil Russland die zwölf Punkte des Friedensplans der OSZE akzeptiert hat.“ Auch Ratspräsident Herman Van Rompuy betonte noch am Donnerstag, die EU sei bereit, alle Strafmaßnahmen „eilends zu ändern, auszusetzen oder zurückzunehmen“, wenn Moskau sich „konstruktiv um die Beendigung der Ukraine-Krise“ bemühe.
Für eine solche Deeskalation gab es am Donnerstag allerdings noch keine Hinweise. Erst bestätigte die Nato, dass noch über 1000 russische Soldaten auf ukrainischem Boden stehen. Dann meldete zunächst die polnische Regierung, die Gaslieferungen aus dem Osten seien um die Hälfte reduziert worden. Wenig später bestätigte die slowenische Regierung, dass auch in ihrem Land etwa zehn Prozent weniger Energie ankomme.
Gazprom-Sprecher Sergej Kuprijanow dementierte postwendend: „Der Export nach Polen geht ohne Änderungen, er ist im selben Umfang wie an den vorhergehenden Tagen – jeweils 23 Millionen Kubikmeter.“ Dennoch reagierte Brüssel irritiert: Ist das die befürchtete Rache Moskaus für die verschärften Sanktionen?
Kiew will eine Mauer bauen
„Wir werden Strafmaßnahmen der EU als einen unfreundlichen Akt ansehen“, hieß es zeitgleich aus dem russischen Außenministerium. Vor Tagen hatte man bereits spekuliert, Moskau könne die lukrativen Überflugrechte für westliche Airlines aussetzen, damit diese gezwungen sind, auf ihrem Weg nach Asien teure Umwege zu fliegen. Zugleich kamen Gerüchte auf, der Kreml verfolge den Plan, den Import westlicher Fahrzeuge zu stoppen, um die europäische Automobilindustrie zu treffen
Die Ukraine begann mit dem Bau von Befestigungsanlagen an der Grenze zu Russland. „Geplant sind zwei Verteidigungslinien“, teilte die Pressestelle der „Anti-Terror-Operation“ am Mittwochabend in Kiew mit. Unabhängig davon will Regierungschef Arseni Jazenjuk entlang der Grenze auch eine rund 2300 Kilometer lange Mauer bauen lassen. Mit Informationen der DPA