Die Zahlen haben ein erschreckendes Ausmaß angenommen. Mehr als 60 000 Menschen sind seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli in der Türkei verhaftet oder zeitweise suspendiert worden: „Andersdenkende werden eingeschüchtert, die Opposition eingesperrt, die Todesstrafe soll wieder eingeführt werden“, sagte der österreichische Außenminister Sebastian Kurz beim Treffen mit seinen Amtskollegen am Montag in Brüssel in aller Deutlichkeit: „All das ist nichts, bei dem wir in Europa zur Tagesordnung übergehen dürfen.“
Doch in der EU herrscht Zwiespalt, wie man dem Land gegenüberstehen will. „Ich habe manchmal die Sorge, dass aufgrund des Flüchtlingsdeals manche in Europa gerne so tun würden, als würde nichts geschehen in der Türkei“, beklagte der Wiener Diplomat. Die Haltung Österreichs ist bekannt – schon seit Monaten plädiert das Land für die Aussetzung der Beitrittsverhandlungen, die im Zuge der Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise wieder „neuen Schwung“ erhalten sollten. Dort sieht man weder für die Öffnung neuer Kapitel in den Beitrittsgesprächen Raum (in diesem Fall „müsste Österreich mit Nein stimmen“, so Kurz), noch für die ursprünglich für Oktober geplante Visaliberalisierung.
Abkommen zeigt Wirkung
Der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu hatte jedoch neben anderen Kabinettsmitgliedern mehrfach deutlich gemacht, dass sich Ankara nicht mehr an das Abkommen gebunden fühle, wenn die EU ihre Versprechen nicht erfüllt. Allerdings war die Aufhebung der Visapflicht an klare Bedingungen gebunden – darunter die Einhaltung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit „in der Praxis“, wie es in einem früheren Fortschrittsbericht der Kommission heißt (inzwischen ist in diesem Bereich von einem „ernsthaften Rückfall“ die Rede), sowie die Einschränkung des weit gefassten Anti-Terror-Gesetzes.
Zwar zeigt das Flüchtlingsabkommen durchaus Wirkung. Schon mit der Schließung der Balkanroute sank die Zahl der Ankömmlinge in Griechenland bereits auf „unter 1000“ (Kurz) am Tag, seit Inkrafttreten des Abkommens im April waren es zwischenzeitlich sogar nur etwa 50 am Tag (nach Zahlen des Flüchtlingshilfswerks UNHCR). Doch seit August kamen wieder deutlich mehr Menschen auf den griechischen Inseln an, durchschnittlich etwa 3000 im Monat, also etwa 100 pro Tag. Wir müssen „selbst stark sein und die Außengrenzen schützen“, lautete denn auch die Forderung im Kreis der Außenminister. Und: „Wir müssen vorbereitet sein.“ Für den Fall, dass Ankara Ernst macht.
Blick auf Massenverhaftungen
Der Tenor des gestrigen Treffens war deutlich: „Wir können nicht einfach zusehen“, sagte der luxemburgische Außenamtschef Jean Asselborn mit Blick auf die Massenverhaftungen und die Diskussion um die Wiedereinführung der Todesstrafe. Sein belgischer Amtskollege Didier Reynders meinte sogar, die EU müsse „über ihre Beziehungen mit der Türkei nachdenken“. Lediglich der britische Außenminister Boris Johnson war anderer Meinung: Man dürfe das Land nicht in eine Ecke drängen, warnte er. „Keiner von uns will die Türkei fallen lassen“, versuchte Asselborn zu vermitteln: „Allerdings darf die Türkei uns auch nicht fallen lassen.“
Nur einer gab sich betont bedeckt über seine Haltung zu dem Bosporus-Staat: Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier vermied jede Äußerung vor der Sitzung in Brüssel – er will am Dienstag mit seinem türkischen Amtskollegen Cavusoglu in Ankara zusammentreffen. Aber die Stimmung scheint langsam umzuschlagen. Gestern klangen erstmals Rufe nach Sanktionen gegen die Türkei durch.
Einerseits Beitrittsgespräche zu führen und andererseits Sanktionen zu verhängen, habe jedoch „einen logischen Sprung“, monierte Erweiterungskommissar Johannes Hahn. Eine Entscheidung darüber wurde gestern (noch) nicht gefällt. Hahn muss wohl noch länger auf eine „klare Position der Mitgliedstaaten, wie wir die Gespräche mit der Türkei führen sollen“, warten.