In seinem neuen Buch „Die neuen Dschihadisten“ erklärt Peter Neumann das Phänomen des heutigen islamistischen Terrorismus und warum er eine so große Gefahr für Europa ist.
Peter Neumann: Die erste religiöse Terrorwelle um El Kaida ist um 2010 abgeebbt. Sie hat es aber geschafft, sich zu erneuern. Das hängt mit dem Arabischen Frühling und den Konflikten im Irak und Syrien zusammen. Wir müssen daher davon ausgehen, dass es in Europa in den nächsten 15 bis 20 Jahren immer wieder zu kleineren, aber schockierenden Anschlägen kommen wird. Nicht vergleichbar mit 9/11, aber mit denen in Paris oder dem Anschlagsversuch kürzlich in dem Zug in Belgien.
Neumann: Ja, aber das ist nicht die einzige Gefahr. Ich befürchte, dass sich in der Folge die europäischen Gesellschaften mehr polarisieren: Die extremen Rechten werden Zulauf bekommen und Ausgrenzung produzieren. Das treibt wiederum Muslime in die Arme von Dschihadisten, die durch diese Entwicklung ebenfalls gestärkt werden.
Neumann: Was die Terrorismusbekämpfung angeht, ist Deutschland unter dem reinen Sicherheitsaspekt sehr gut – aber in der Präventionsarbeit miserabel. Inzwischen gibt es so viele Fälle von jungen Menschen, die sich islamistischen Gruppen zuwenden, dass die Sicherheitsbehörden an ihre Grenzen kommen. Man muss langfristig dafür sorgen, dass diese Fallzahlen sinken. In vielen Ländern gibt es innovative Präventionsprogramme, wo sich etwa freie Träger um die nicht akut gefährlichen Fälle kümmern, damit die Polizei Zeit für die echten Gefährder hat.
Neumann: Prinzipiell schon. Innenminister Thomas de Maiziere oder Familienministerin Manuela Schwesig erzählen gerne von ihren Programmen. Die sind untereinander aber nicht koordiniert. Und die wichtigsten Initiativen in Deutschland sind alle unterfinanziert. Zum Beispiel „Kitab“ in Bremen, eine Organisation, die für ganz Norddeutschland zuständig ist und sich um Elternberatung und Deradikalisierung kümmern soll. De Maiziere führt „Kitab“ in seinen Reden gerne als Beispiel dafür an, dass Prävention vom Bund finanziert wird. Aktuell bearbeitet „Kitab“ 150 Fälle. Mit wie viel Personal? Mit zwei halben Stellen! Das verrät de Maiziere aber nicht.
Neumann: Beim 11. September kamen die Terroristen von außen. Diese Ankündigung aber impliziert zunächst einmal, dass die möglichen Attentäter schon in Amerika sind und es somit in den USA Unterstützer des Islamischen Staates gibt, die so etwas planen.
Das wäre ein Alptraum für die USA. Meistens steckt hinter solchen Drohungen aber nicht viel. Oft hofft man, dass solche Ankündigungen als sich selbst erfüllende Prophezeiungen funktionieren: Sympathisanten sollen quasi inspiriert werden, einen Anschlag zu verüben. Andere Ankündigungen dienen einfach nur der Propaganda.
Neumann: Der Irak ist genau der Punkt: In zwei Wochen war der Irak besiegt, aber was daraus folgte, waren fünf Jahre blutige Besetzung, weil es keine alternative Ordnung gab. Barack Obama ist 2008 damit angetreten, dass er die Fehler der Bush-Ära nicht wiederholen möchte. Er könnte 150 000 Soldaten wie 2003 schicken. Aber was ist am Tag danach? Amerikanische Soldaten, die syrische und irakische Dörfer besetzen – auf unbefristete Zeit und mit unkalkulierbarer Rechnung. Das will Obama verhindern. Einige republikanische Kandidaten in den USA sagen, man kann den IS in 90 Tagen erledigen. Ich glaube, es gibt hier keine schnelle, einfache militärische Lösung.
Neumann: Aggressive Eindämmung. Die Zukunft des IS beruht auf ständiger Expansion. Langfristig muss der IS zur Implosion gebracht werden, indem man zunächst seine Ausbreitung stoppt – auch mit militärischen Mitteln. Den IS zurückzudrängen bringt nur dort etwas, wo es auch durchgehalten werden kann und lokale Kräfte die Macht übernehmen können. Die Grenzen müssen absolut dichtgemacht werden. Da muss die Türkei in die Pflicht genommen werden. Man muss den IS ökonomisch isolieren und ideologisch bekämpfen. Er wird so nicht in 90 Tagen fallen, aber in zwei oder drei Jahren in eine Situation kommen, in der es innerhalb des IS einen Aufstand gegen den IS gibt.
Neumann: Der IS produziert nichts und wer will schon mit dem IS Handelsbeziehungen haben? Genauso wie Nazi-Deutschland ist er eine Raubökonomie, die darauf beruht, dass man ständig neue Territorien erobert und plündert, um den Rest des Imperiums zu finanzieren. Es gibt jetzt schon Berichte über Versorgungsengpässe. Sogar die Auslandskämpfer beschweren sich, dass sie nicht mehr genügend bekommen. Momentan hat der IS Macht, weil ihn wichtige Stämme im Irak und in Syrien unterstützen. Wenn die Gebiete aber isoliert sind, können die Amerikaner irgendwann mit dem großen Geldkoffer rein. Dann werden die Stämme ihre Loyalität überdenken.
Neumann: Was den Bürgerkrieg angeht, ist vieles festgefroren: Seit einem Jahr haben wir nur geringe Bewegungen, auch was Gewinne und Verluste des IS angeht. Viele finden deshalb, die militärische Offensive gegen den IS habe nichts gebracht. Ich würde aber argumentieren, alleine die Tatsache, dass der rasante Vormarsch des Islamischen Staates gestoppt wurde, ist etwas Gutes. Der Mythos der Unbesiegbarkeit des IS wurde gebrochen. Vor einem Jahr haben wir noch davon gesprochen, dass Bagdad möglicherweise an den IS fällt, dass der gesamte Irak überrannt wird, dass Jordanien und Saudi-Arabien in Gefahr sind. Davon ist keine Rede mehr.
Neumann: Das glaube ich nicht, aber ich glaube, dass die Türkei hier ein unsicherer Verbündeter ist. Die Türkei hat zwei Motive: die eigene Sicherheit und die Kurden-Frage. Die Infrastruktur vieler dschihadistischer Gruppen liegt auf türkischem Territorium. Wenn die Türkei beginnt massiv gegen den IS vorzugehen, könnte der sich mit Anschlägen rächen.
Das wäre einfach. Deswegen war die Türkei bislang immer geneigt, ein Auge zuzudrücken. Die Kurden sind dagegen die besten Kämpfer gegen den IS. Aber je stärker die Kurden werden, desto größer die Gefahr für die Türkei. Als es hieß, die Türkei kämpft jetzt auch gegen den IS, traf die Mehrzahl der Luftschläge die Kurden. So werden die Gegner des IS mehr vom Eingreifen der Türkei geschwächt, als der IS selbst. Indirekt wird der IS so gestärkt, aber die Türkei ist sicher kein aktiver Unterstützer. Auch wenn Erdogan ein softer Islamist ist, er ist kein Dschihadist.
Neumann: Putin geht es einerseits um den Machtkampf mit den USA. Syrien ist da ein weiterer Schauplatz. Andererseits geht es ihm um seine Idee davon, wie Terrorismus zu bekämpfen ist. Wie die aussieht, sieht man an Tschetschenien: alles plattmachen. Genau das macht auch Assad. Die beiden haben viel gemeinsam: Sie sind pragmatische, ideologiefreie, autokratische, brutale und teils sehr korrupte Anführer von Staaten. Das Problem ist, dass sie keine politische Lösung anzubieten haben – und deshalb macht Putins Intervention in Syrien die Situation wahrscheinlich schlimmer, schafft mehr Extremisten, mehr Chaos und wahrscheinlich auch mehr Flüchtlinge.
Seit Monaten schon fliehen Tausende Syrer Richtung Europa. Wie denkt der IS über Flüchtlinge – Moslems, die in den sündigen Westen gehen?
Neumann: Der IS will, dass die Leute im Islamischen Staat leben. Sunniten haben laut dem sogenannten Kalifen al-Baghdadi sogar die Pflicht, im Islamischen Staat zu leben. Viele Flüchtlinge kommen aus der Mittelschicht – das sind Menschen, die sich die Schleuser leisten können. Das sind oft Assad-Unterstützer und damit Gegner und teils Verfolgte des IS. Für Unterstützer des IS würde eine Flucht in den Westen auch keinen Sinn machen. Für solche Menschen gibt es nichts Besseres, als im Islamischen Staat zu leben. Warum sollte man in das korrupte, sexuell pervertierte Deutschland kommen, wenn es diese wunderbare Utopie des IS gibt?
Neumann: Der IS hat selbst behauptet, man habe schon 3000 als Flüchtlinge getarnte Dschihadisten eingeschmuggelt. Im Internet gibt es Fotos, die ankommende Flüchtlinge als IS-Kämpfer in Syrien zeigen sollen. Die haben sich aber bislang alle als Fälschung entpuppt.
Ich habe bis heute noch keinen Hinweis, geschweige denn einen echten Beleg dafür gesehen. Das heißt zwar nicht, dass es nicht möglich ist, wir sollten aber nicht in die totale Hysterie verfallen. Das ist nämlich eine sehr abstrakte Gefahr: Warum sollte der IS Syrer einschleusen, wo er doch so viele europäische Unterstützer mit europäischen Pässen hat, die bereits in Europa sind?
Neumann: Das ist in Bosnien und im Kosovo ohne Zweifel ein Thema. Wie in fast allen muslimischen Ländern der Welt gibt es dort Leute, die sich für den IS begeistern und sich radikalisiert haben. Das ist der Grund, warum sich westliche Staaten gerade intensiv mit der Sicherheitslage am Balkan beschäftigen.
Neumann: Ich glaube, wenn man vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflohen ist, ist es das Letzte, wonach man sich sehnt, Pierre Vogel (bekannter deutscher Salafisten-Prediger; Anm. d. Red.) gegenüberzustehen und sich etwas über den Islam erzählen zu lassen. Versuche gibt es auf jeden Fall, aber ich glaube nicht, dass das besonders erfolgreich sein wird.
Peter Neumann
Der Würzburger Peter Neumann gilt als einer der renommiertesten Terrorismus-Experten. Der 40-Jährige ist Professor am Londoner King's College und leitet dort das „Internationale Zentrum zum Studium von Radikalisierung“. Mit einem vierköpfigen Team durchforstet der Politikwissenschaftler soziale Netzwerke nach Dschihadisten und sammelt so Informationen über islamistische Terrororganisationen. Inzwischen umfasst seine Datenbank rund 700 Profile westlicher Dschihadisten, die nach Syrien oder in den Irak gegangen sind. Neumann arbeitet mit Regierungen, Nachrichtendiensten und internationalen Organisationen zusammen und berät unter anderem den UN-Sicherheitsrat.
Am 9. Oktober erscheint sein Buch „Die neuen Dschihadisten“ (Econ-Verlag, 256 Seiten, 16,99 Euro).