Wer auf das Stichwort „Neuwahlen“ gewartet hat, als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gestern vor die Presse trat, wurde enttäuscht. Der oberste Repräsentant des Staates, der als Einziger den Schlüssel zu einem neuen Wählervotum besitzt, appellierte stattdessen an die gewählten Volksvertreter, sich zu einigen. „Alle in den Bundestag gewählten politischen Parteien sind dem Gemeinwohl verpflichtet“, sagte der Bundespräsident, er erwarte „Gesprächsbereitschaft“ für eine Regierungsbildung „in absehbarer Zeit“. Der misslungene Versuch der Bildung einer Jamaika-Koalition genügt ihm noch nicht als Nachweis echten Bemühens.
Steinmeier will jetzt viele Gespräche führen, mit den Parteien und mit dem Bundestags- und Bundesratspräsidenten. Dass es rasch zu Neuwahlen kommt, die viele als die einfachste Lösung herbeisehnen, ist Steinmeiers Anliegen nicht. Er fordert zu mehr Anstrengung auf und will sich Zeit nehmen.
Und er hat tatsächlich Zeit. Denn die Bundesrepublik besitzt ja eine Regierung, wenn auch nur eine geschäftsführende. Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Minister von Union und SPD sind aber durchaus in der Lage, die laufenden Geschäfte zu erledigen. Der Bundespräsident ist an keine Frist gebunden, wann er diesen Zustand beendet. Das Grundgesetz schreibt nur vor, dass nach einer Bundestagswahl der Kanzler „auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage . . . gewählt“ wird.
Erst wenn das Staatsoberhaupt diese Prozedur einleitet, beginnen Fristen zu greifen. Nach rund zwölf Wochen könnte es dann Neuwahlen geben. Und das geht so: Erhält der von Steinmeier vorgeschlagene Kanzlerkandidat oder die -kandidatin nicht die absolute Mehrheit, so kann der Bundestag „binnen vierzehn Tagen“ diesen oder einen anderen Kandidaten wählen. Misslingt dies, findet „unverzüglich“ ein neuer Wahlgang statt, in dem die einfache Mehrheit genügt. Der Bundespräsident kann dann „binnen sieben Tagen“ den Gewählten oder die Gewählte zum Kanzler ernennen – damit wäre eine Minderheitsregierung im Amt – oder er muss den Bundestag auflösen.
In diesem Fall „findet die Neuwahl innerhalb von sechzig Tagen statt“, heißt es im Grundgesetz.
In der Bundesrepublik, die immer ein Musterland an Regierungsstabilität war, hat es auf Bundesebene bisher weder eine Minderheitsregierung noch eine über eine gescheiterte Kanzlerwahl ausgelöste Neuwahl gegeben. In anderen Staaten ist das freilich nicht ungewöhnlich. So ist die Minderheitsregierung in Skandinavien derzeit der Normalfall: Sowohl in den EU-Staaten Dänemark und Schweden als auch in Norwegen verfügen die Regierungschefs über keine sichere Mehrheit im Parlament. In Oslo hat Ministerpräsidentin Erna Solberg zwar eine feste Zusammenarbeit mit weiteren Parteien im Parlament vereinbart. In Stockholm aber muss Regierungschef Stefan Löfven mal bei der Linkspartei, mal bei der bürgerlichen Opposition um Unterstützung werben.
Auch Spanien als eines der großen EU-Länder hat derzeit keine Mehrheitsregierung. Nach der Parlamentswahl 2015 verlor Ministerpräsident Mariano Rajoy mit seiner Volkspartei die Mehrheit, alle Versuche für eine Koalitionsbildung scheiterten. Darauf kam es 2016 zu Neuwahlen, die allerdings nichts brachten: An der politischen Zusammensetzung des Parlaments änderte sich kaum etwas. Darauf wurde Rajoy von einigen kleineren Parteien mitgewählt, um eine dritte Neuwahl innerhalb kürzester Zeit zu vermeiden. Zusätzlich enthielten sich die Sozialisten der Stimme. Aber eine verlässliche Mehrheit besitzt der Regierungschef in Madrid bis heute nicht.
Regierungen ohne Parlamentsmehrheit gab es in Deutschland bisher nur auf Länderebene: In den 80er Jahren herrschten zeitweise „hessische Verhältnisse“, in Sachsen-Anhalt gab es in den 90ern das „Magdeburger Modell“, und 2010 wagte Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen für zwei Jahre eine rot-grüne Minderheitsregierung.
Von der Bundesregierung wird freilich mehr Stabilität verlangt. „Für mich steht fest“, sagt Bundespräsident Steinmeier, „innerhalb, aber auch außerhalb unseres Landes und insbesondere in unserer europäischen Nachbarschaft wären Unverständnis und Sorge groß, wenn ausgerechnet im größten und wirtschaftlich stärksten Land Europas die politischen Kräfte ihrer Verantwortung nicht nachkämen“.