Wer alt genug ist, der weiß, wo er am 11. September 2001 gewesen ist. Der 76-jährige Lee Ielpi aus Long Island weint bis heute, wenn er davon erzählt. „Ich saß zu Hause bei einer Tasse Kaffee, da rief mein Sohn Jonathan an und sagte: 'Schalt den Fernseher ein!'“ Auf dem Bildschirm war das World Trade Center zu sehen, der erste Einschlag im Nordturm. Bis zu seiner Pensionierung war Ielpi selbst Feuerwehrmann gewesen.
Er wusste deshalb, was das Signal bedeutete, das er am anderen Ende der Leitung hörte: Der Trupp seines Sohnes rückte aus. „Jonathan sagte: 'Dad, wir fahren zum World Trade Center.' Und ich sagte: 'O.k., Junge, pass auf dich auf'“, sagt Ielpi tonlos. „Das war das letzte Mal, dass ich mit meinem Sohn gesprochen habe.“ Ein Wiedersehen gab es erst, als Jonathans Körper gefunden wurde, das war im Dezember. Der Vater selbst trug ihn die Rampe empor, die aus der riesigen Schutthalde führte.
Heute eröffnet US-Präsident Barack Obama das große 9/11-Museum am ehemaligen Ground Zero. Das Projekt ist so riesig wie heikel. Das „National September 11 Memorial Museum“ ist Mahnmal, Bildungs- und Konferenzstätte zugleich. Es wird zu einem der größten Touristenmagneten New Yorks werden, direkt am Ort der Katastrophe. Es birgt Überreste von mehr als 2000 Menschen. Im September 2011 wurde das Denkmal an der Oberfläche eingeweiht. Der Entwurf des Architekten Michael Arad schafft in Wasserfällen über dem Grundriss der ehemaligen Türme ein kraftvolles Symbol für den Verlust. In den Rand sind nicht nur die knapp 3000 Namen jener Menschen eingelassen, die 2001 bei den Attacken in New York, Washington und Pennsylvania ums Leben kamen, sondern auch die sechs Opfer des Bombenanschlags auf die Türme 1993. Unter den Katarakten wartete von Anfang an die Aufgabe, das Ungeheure konkreter zu machen. Wie fasst man das Unfassliche?
Das renommierte Architekturbüro Davis Brady Bond residiert an der Südspitze Manhattans im 43. Stock. Aus dem modernen Foyer schweift der Blick ungehindert über den Zusammenfluss von East und Hudson River. Hier sind die Modelle aufgebaut, mit denen Carl Krebs und seine Partner sich durchgesetzt haben. „Es ist ein Geschichtsmuseum für ein Ereignis, das gerade mal zehn Jahre her ist“, sagt der 54-Jährige. „Es gibt immer noch viele Kontroversen und eine Menge Schmerz unter den Beteiligten.“ Zusammen mit den Kuratoren wollten die Architekten einen Raum schaffen, der nicht nur ehrlich, sondern auch in der Lage sein sollte, sich zu entwickeln. „Was uns enorm geholfen hat, waren die riesigen Artefakte, die wir bewahren sollten.“ Die rohe Sperrwand zum Hudson River, die die Katastrophe überstanden hat. Die Fundamente der Säulen rund um die beiden Türme. Und deren Grundrisse unter den Brunnen selbst: Sie bilden das Herz des Baus. Bis heute gibt es viele Menschen, die sich vor einem Besuch der Gedenkstätte fürchten. Um zu zeigen, was dort entstanden ist, laden Davis Brody Bond zu einer Vorabbesichtigung im kleinen Kreis.
Das Museum liegt zu 90 Prozent unterirdisch, lediglich ein futuristischer Pavillon aus Glas und Metall erhebt sich aus der von Bäumen begrünten Plaza. Das lichte Gebilde ist ein Entwurf des norwegischen Architekturbüros Sn?hetta, das durch die Osloer Oper berühmt geworden ist. „Wir versuchen hier, die Menschen zu beruhigen und ein Gefühl der Entspannung zu schaffen“, sagt Sn?hetta-Gründer Craig Dykers. Zwei riesige Stahlträger, die aus dem Untergrund ragen, stimmen allerdings auf das Thema ein: Es ist das einzige alte Relikt der Türme, das auch von außen zu sehen ist. Ein Stockwerk tiefer treffen die Besucher auf einen Empfang in dunklen Holztönen. Neugierige können hier schon erste Ausblicke entdecken; der Bereich liegt aber so hoch, dass er den Trubel der Ankunft von den übrigen Besuchern fernhält. Auch die weitere Annäherung geschieht graduell, in Vor- und Ausblicken, die fast keine Belehrung bieten. Kaum ein Museum nimmt sich so viel Zeit für die Heranführung: Der gewundene Weg bis zum gut 20 Meter tiefer gelegenen Fundamentgestein nimmt die Idee der Rampe wieder auf, die nicht nur in Lee Ielpis Leben unauslöschliche Eindrücke hinterlassen hat. In das kollektive Gedächtnis der New Yorker hat die Rampe sich eingebrannt: Von Anfang an standen an ihrem Rand große Menschenmengen, um den Arbeitenden ihre Unterstützung auszudrücken. Beide Perspektiven hat das Museum bewahrt.
In beinahe absurder Höhe gibt der Weg einen ersten Blick frei auf die hohe „Slurry Wall“, die übrig gebliebene Dichtungsmauer zum Hudson River. Auf der anderen Seite der Halle schimmert, unwahrscheinlich in seiner schwebenden Massivität, das Volumen des früheren Nordturms. Die Architekten haben es in aufgeschäumtes Aluminium gehüllt, eine Reminiszenz an die Fassade der alten Türme. Sie wirkt aber weit ätherischer, wie eine geisterhafte Erinnerung. Gleiches gilt für den Fußabdruck des Südturms, der später zu sehen ist. Hier wird nicht versucht, etwas Verschwundenes zurückzurufen – vor der überwältigenden Macht des Ortes und seiner Exponate beschränkt sich die Architektur auf Andeutungen. Die gut 63 Meter langen Quadrate schweben präzise über den originalen Säulenfundamenten im Fels.
Die Rampe bietet Schutzraum und gleichzeitig Einstimmung auf die emotionale Herausforderung, die am Boden der unterirdischen 11 000 Quadratmeter wartet. Eine Treppe, die für zahllose Menschen zum Ausweg wurde, ist nicht einfach zur Ansicht installiert: Die Besucher bringen daneben selbst einen Abstieg hinter sich. Auf der anderen Seite des Raums liegen hinter einer Wand die sterblichen Reste jener Menschen, die nicht entkamen. Von den knapp 2800 Getöteten werden immer noch mehr als ein Drittel vermisst. Die meisten anderen wurden in Teilen geborgen, an denen Gerichtsmediziner bis heute arbeiten. Den zugehörigen Andachtsraum dürfen nur Angehörige betreten.
Der langsame Abstieg bietet den Besuchern aber auch Gelegenheit, ihre eigenen Erinnerungen zu rekapitulieren. Das ist eines der wichtigsten und demokratischsten Anliegen des Museums. Ein Drittel der Weltbevölkerung hat den Einsturz des World Trade Centers mehr oder weniger live mitverfolgt. Gleich zu Beginn werden in einer Soundcollage deshalb Erinnerungen aus aller Welt gewürdigt. Statt die Geschichte zu interpretieren, beschränken sich die Kuratoren auch später auf eine möglichst neutrale Präsentation möglichst zahlreicher Perspektiven.
Am Ende erwartet die Besucher ein Zeitstrahl, der die Geschichte der Anschläge flexibel fortschreibt. Er speist sich aus einem wachsenden Archiv von mehr als zwei Millionen internationaler Zeitungsberichte, von Guantánamo über die NSA bis zu Fragen der Einwanderung. Die Besucher selbst können Erinnerungen in eine Datenbank speichern.
Tom Hennes verantwortet mit der Firma Thinc Design die Gestaltung: „Meine inbrünstige Hoffnung ist, dass jeder hier etwas von sich selbst wiedererkennt und fühlt, dass hier eine wahre Geschichte erzählt wird“, sagt er, „weil es seine Geschichte ist. Mit diesem Gefühl kann man auch anderen Sichtweisen gegenüber offener sein.“
Einmal am Boden angelangt, hört auch die Lenkung durch die Rampe auf; jeder kann selbst bestimmen, welche Ausstellungsbereiche er besucht. Die Exponate rund um die Quader werden ohne viel Kontext präsentiert, subtil und in reduzierter Typografie. Wer möchte, betritt die eigentlichen Grundrisse – dort wird es intensiv.
Unter dem ehemaligen Südturm werden die Opfer nicht nur in Fotos vorgestellt, sondern auch in Audio-Berichten von Angehörigen. Das Nordturm-Areal beherbergt die eigentliche Ausstellung: die Geschichte der Anschläge, ihre Hintergründe, die Reaktionen darauf. Hier warten einige der umstrittensten Exponate: ein zum Klumpen verschmolzener Block mehrerer Stockwerke, bei dem niemand ausschließen kann, dass er nicht menschliche Überreste enthält. Fotos der Attentäter, gegen die sich Angehörige der Opfer lange gewehrt haben. Ein umstrittener Film über El Kaida. Vergangenes Wochenende störten einige Familienangehörige die feierliche Überführung der Überreste an ihre neue Ruhestätte. Für viele Konflikte gibt es keine einfache Lösung.
Unabhängig von der Sicht auf die Anschläge wünscht Tom Hennes sich doch, dass das Museum etwas bewirkt: mehr Bereitschaft, mit Komplexität und Mehrdeutigkeit umzugehen. „Dies ist ein teurer Ort“, sagt Hennes über das 718 Millionen Dollar teure Ensemble aus Mahnmal und Museum. „Er muss der Öffentlichkeit auf eine wirklich spürbare, produktive Weise dienen.“
„Als ich meinen Sohn nach oben getragen habe, habe ich darauf geachtet, den Bergungskräften im Spalier zuzulächeln“, erinnert sich Lee Ielpi. „Es ist unbeschreiblich, was diese Menschen durchgemacht haben.“ Auch dem 9/11-Museum geht es nicht um Gebäude, sondern um Personen. Um jene, die fehlen, aber auch um jene, die nach der Katastrophe zeigten, zu welcher Selbstlosigkeit Menschen imstande sind.
Vor allem geht es um jene, die heute auf der Vergangenheit aufbauen müssen. Lee Ielpi selbst gehört zu den Gründungsmitgliedern des 9/11 Tribute Centers, das Betroffene der ersten Stunde seit 2004 in einer Nebenstraße betreiben. Mit dem neuen Museum besteht eine enge Zusammenarbeit. Auch dort werden die Besucher mit hoffnungsvollen Akzenten entlassen. Wenn sie wieder ans Tageslicht treten, dann sehen sie die vielfachen Spiegelungen auf der Plaza vielleicht mit anderen Augen: Die Wasserschleier sind eine Marke für den Verlust, die neuen Wolkenkratzer ein Zukunftsversprechen. Am Boden aber geht es um die Gegenwart: In dem Pavillon aus Glas und Metall bricht sich das Bild all jener, die den neuen Park nun bevölkern.
Wenn Präsident Barack Obama das Museum heute seiner Bestimmung übergibt, soll der Platz wieder zu einem Zentrum des öffentlichen Lebens werden. Nach einer Einführungsphase für Opferfamilien, Honoratioren und Presse darf die Öffentlichkeit dann vom 21. Mai an den Untergrund erkunden.