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Erinnerung an das Grauen
Die Schlacht um Stalingrad: Als junger Arzt hat Anisim Moisenko an der Front operiert. Fast 70 Jahre ist das her, aber Moisenko hat nichts vergessen aus der Zeit, als er mit seinen Füßen im Blut stand.
Von unserem Mitarbeiter Till Mayer
 |  aktualisiert: 24.02.2012 20:19 Uhr

Anisim Moisenko hat jedes Zeitgefühl verloren. Unter seinen Füßen versickert Blut im Boden und gefriert. Rotarmisten haben die dreimal vier Meter große Grube nur mit Spaten aus der vereisten Erde gehackt. 1,5 Meter tief. Dann gaben sie das Graben auf und warfen Balken und Wellblech über die Grube.

Die Grube – sie ist der Operationssaal. 700 000 Menschen soll die Schlacht von Stalingrad das Leben gekostet haben: Zivilisten, Rotarmisten und Landser. Anisim Moisenko versuchte, diese Zahl geringer zu halten. Als Militärarzt operierte er im Akkord. Dass ein Menschenleben scheinbar wertlos ist – er wollte es nie akzeptieren.

Aus Patronenhülsen qualmt und flackert es als Funzelersatz. Moisenko hat gerade wieder ein Bein abgenommen, von Schrapnellen zerfetztes Fleisch. Vor ihm liegt ein Soldat mit dem Gesicht eines Kindes. Schreit sich die Seele aus dem Leib. Bald wird die Ohnmacht kommen, weiß Moisenko. Wie er es unzählige Male bei anderen Amputationen zuvor erlebt hat. Morphium kann er schon lange niemandem mehr spritzen. Stattdessen flößen seine Helfer den Verwundeten Wodka ein. Es hilft nicht viel.

Kaum 23 Jahre ist Anisim Moisenko da alt. Ein junger Hauptmann mit gerade abgeschlossenem Medizinstudium. Es war eine fast nur theoretische Ausbildung, die er in Minsk erhalten hatte. Geübt hatte er vor dem Stalingrad-Einsatz an Puppen. Praxis kommt für den jungen Mann inmitten der Hölle.

Jetzt stehen bis zu 20 Operationen am Tag an. Moisenko sägt und näht wie ein Roboter. Nichts denken, nichts fühlen, nur arbeiten. Operieren. Bis die letzte Energie verbraucht ist. Bis die Müdigkeit selbst die Kälte vergessen lässt. Die Detonationen der Granaten, das Brüllen der Artillerie.

„Ich hätte verrückt werden können. All das Sterben.“

Anisim Moisenko über seine Operationen

Der Frontarzt fragt sich manchmal, ob das alles nur ein schrecklicher Traum ist. Er steht hier schon seit Wochen an dem grob gehauenen Tisch und versucht zu retten, was sich der Tod oft kurz darauf dann doch holt. Am Ufer der Wolga liegen die Verwundeten und von Moisenko Operierten, die darauf warten, mit kleinen Flößen auf die andere Seite des Flusses gebracht zu werden. Dort, wo die Rote Armee wieder Herr über ein Trümmermeer ist. Sind die Verwundeten noch in der Lage, selbst zu paddeln, steigt die Überlebenschance. Aber mehr als eine Chance hat hier niemand. Oft kostet die Wartezeit am Flussufer schon das Leben. Glück haben die, die in einem Zelt Unterschlupf finden. Andere liegen draußen, den Schneestürmen ungeschützt ausgesetzt. Teilweise werden Trümmerstücke heiß gemacht, in „Wärmepackungen“ auf die Verwundeten gelegt. Ein Stück Wärme, das ist lebensentscheidend.

Es ist nicht nötig, dass der Politoffizier es den Soldaten der Brigade immer wieder eintrichtert. „Stalingrad, das war die Entscheidung. Das war uns allen bewusst. Wir mussten die Faschisten stoppen“, sagt der heute 93-Jährige in seinem Wohnzimmer mit der großen Glasvitrine aus Sowjetzeiten. In seiner Altbauwohnung im Zentrum des westukrainischen Lemberg (Lviv), in der er seit Jahrzehnten lebt. Mit all den Orden an der Wand und der Schirmmütze der Sowjetarmee auf der Anrichte.

Im Januar 1943 ist die dreimal vier Meter große Grube sein Schlachtfeld. Und bald erkennt er, dass die „Faschisten“, wie die deutschen Soldaten genannt wurden, genauso im Schmerz nach ihrer Mutter, nach ihrer Frau, nach ihrem Mädchen schreien wie die Soldaten, die die Uniform der Roten Armee tragen. Sie haben die gleiche Angst in den Augen. Die gleiche Furcht vor dem Tod. Die Furcht der Deutschen ist noch größer, weil sie nicht wissen, ob sie ihm, Anisim Moisenko, trauen können. Sie sind völlig schutzlos in der Hand des Feindes. Der Militärarzt kann ein wenig Deutsch: „Keine Angst, Kamerad“, sagt er den Landsern. Dann kommt nicht selten die Säge.

„Es war furchtbar zu sehen, wie wertlos ein Menschenleben geworden war. Ich hätte verrückt werden können. All das Sterben. Es fiel nicht leicht, Hoffnung zu bewahren“, erinnert sich der 93-Jährige. Und erzählt dann doch davon, wie er das Leben gesehen hat. Inmitten all der Trümmer. Besser: Inmitten eines Erdlochs. „Genosse Arzt“, redet ihn da ein Rotarmist an. Ein junger Kerl, mit dreckverschmiertem Gesicht unter dem runden Stahlhelm. „Genosse, draußen, im Niemandsland liegt eine Verwundete, schreit um Hilfe.“ Als es dunkel ist, ziehen Moisenko und der Soldat los. Sie brauchen lange. Jedes Mal, wenn eine Leuchtrakete in den Himmel zischt, drücken sie sich fest auf den Boden. Meter für Meter geht es so.

Die Frau liegt in einem Erdloch und schreit schon nicht mehr. Moisenko sieht ihre blauen Lippen. Er kann nicht einmal mehr ihr Herz hören. Aber dafür das des Kindes. Die Wehen beginnen. Mitten in dieser eisigen Nacht entbinden sie. „Als das Kind da war, geschrieen hat, da kam die Mutter wieder zu Bewusstsein. Das ist für mich ein Wunder“, sagt der 93-Jährige heute.

Ein kalter Wintermorgen Anfang Januar 1943 bricht an. Es ist zu spät, um hinter die Frontlinien zurückzukehren. Überall Scharfschützen, die auf alles schießen, was sich bewegt. Und so legen sich die beiden Rotarmisten nahe an die Mutter und ihr Kind, um beide vor dem scharfen Wind zu schützen. Warten Stunde für Stunde, bis die Dämmerung kommt. Die Kälte frisst sich durch den gefütterten Mantel, beißt sich in das Fleisch. Minuten ziehen sich so langsam, als wären es Stunden. „Mein Gott, ich hatte immer Angst, Mutter und Kind sterben in dieser verfluchten Eiseskälte“, erinnert sich Moisenko. Als die Dunkelheit es zulässt, zieht er seinen Mantel aus, bettet die Frau mit dem Neugeborenen drauf. Zusammen schleifen die beiden Soldaten sie über den vereisten Boden in Richtung ihrer Linie. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit. Und wieder werfen sie sich auf den Boden, wenn eine Leuchtrakete in den Himmel steigt.

„Ich habe nie erfahren, was aus dem Baby und seiner Mutter geworden ist. Aber allein dass sie die Strapazen überlebt haben, das hat mir Mut gegeben. Ob sie lebendig aus Stalingrad gekommen sind? So geschwächt, der Fluss, das Feuer der Deutschen.“ Der Stalingrad-Veteran blickt traurig. Schaut auf all seine Orden, die einen Ehrenplatz an der Wand gefunden haben. Mitsamt den jährlichen Grußkarten der Kommunistischen Partei der Ukraine an die Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges. Stramme Krieger blicken da siegesbewusst im altbekannten sozialistischen Realismus vom dünnen Karton. Auf einem Quadratmeter Wandfläche lebt bei Moisenko die Sowjetunion ruhmreich fort. Lenin-Bild inklusive und ein aus Eisen gegossener Stalin. Stalin? Seine Meinung zu Stalin? Der sowjetische Diktator gehört für den Veteranen zu den Orden an der Zimmerwand dazu. „Er hat Geschichte geschrieben. So war das eben. Auch wenn ich seine Grausamkeit nicht schönreden will“, sagt der alte Mann knapp.

Der Wahnsinn des Stalinismus hätte ihn fast selbst das Leben gekostet. Damals in Stalingrad: Die Deutschen haben nach den Kämpfen ein halbes Dutzend Kettenfahrzeuge zurückgelassen. Moisenko steht am OP-Tisch, als ein Offizier von der Front in seine Grube klettert. „Du kannst Auto fahren?“, herrscht er den Arzt an. Moisenko nickt und will weiter operieren, da schiebt ihn der andere schon zur Leiter: „Weiter, los, wir haben keine Zeit zu verlieren.“ Auf dem OP-Tisch blutet ein Mann weiter, als Moisenko mit dem Offizier zu den Kettenfahrzeugen eilt. Doch die haben kein Lenkrad, stattdessen zwei Hebel. „Genosse, ich habe keine Ahnung, wie man so ein Gerät fährt,“ sagt der Militärarzt. „Steckst du mit den Faschisten unter einer Decke? Bring das Fahrzeug zum Fahren oder ich lass dich gleich hier erschießen“, kläfft ihn dafür der Offizier an.

„Er hat Geschichte geschrieben. So war das eben.“

Anisim Moisenko über Stalin

Moisenko weiß, dass der andere keinen Spaß macht. Er kennt den Typ von Menschenschindern, die ihre eigenen Leute hinterrücks erschießen, wenn sie sie für feige halten. „Irgendwie habe ich es geschafft, die Kettenfahrzeuge zum Laufen zu bringen. Ich war wirklich weit und breit der Einzige, der ein Auto lenken konnte. Und während ich mühsam mit den Kettenfahrzeugen fuhr, starben die Verwundeten, die ich nicht operieren konnte“, sagt der 93-Jährige.

Es ist die letzte Geschichte aus Stalingrad, die Anisim Moisenko in seiner westukrainischen Heimatstadt Lemberg (Lviv) heute, im 70. Jahr nach dem Beginn der Kesselschlacht, erzählen will. Die Zeitreise kostet ihn Kraft. Jetzt noch eine Fahrt zur Heldengedenkstätte von Lemberg, das darf nicht fehlen. Ein in Stahl gegossener Rotarmist ragt in den kalten Himmel. Moisenko zieht sich stolz sein Jackett mit den Orden für das Foto zurecht. Früher nahm er immer an den Veranstaltungen zum 9. Mai teil, bei denen des Sieges über Hitlerdeutschland gedacht wurde. Vor drei Jahren warfen ihn ukrainische Nationalisten dabei zu Boden. Seither bleibt er zu Hause.

In Lemberg hat man neue, alte Helden gefunden. Stephan Bandera und seine Partisanen, die zuerst mit den Nazis gegen die Sowjetarmee gekämpft hatten und später gegen beide Armeen einen Partisanenkampf für eine unabhängige Ukraine führten. An Massenmorden an Juden und politischen Gegnern sollen sie beteiligt gewesen sein, klagen Historiker an. In Lemberg wischen viele einfach darüber hinweg. Selbst der neue Flughafen soll nach Bandera benannt werden. In der Stadt steht jetzt ein monumentales Denkmal: Bandera in Stahl gegossen. Im Sommer sieht man Jugendliche mit „Banderastadt“-T-Shirts. Auf dem prächtigen Boulevard, der zur Oper führt, steht meist ein Stand der „Swoboda“. Lemberg gilt als eine Hochburg der rechtsnationalen Partei.

„Ruhm der Ukraine“ ist das Passwort, um an einem Türsteher in Nationalistenuniform vorbei in ein stets gut besuchtes Themen-Restaurant in historischen Kellergewölben zu gelangen. Im Untergrund der Altstadt hängen die Fahnen der Bandera-Partisanen und alte Fotos grimmiger Kämpfer. Die von Rotarmisten sind da natürlich verpönt. „Jetzt muss ich arbeiten gehen“, sagt Moisenko freundlich, aber bestimmt. Der 93-Jährige gibt noch als Gerichtsmediziner seine Expertisen. Es hat eine Messerstecherei gegeben, dabei ist ein junger Mann gestorben. „Was für Zeiten und was für eine Verschwendung von Leben“, brummelt der alte Herr und zieht die Jacke mit den Orden wieder aus.

Stalingrad

Die Schlacht um Stalingrad gilt als kriegsentscheidend im Zweiten Weltkrieg. Mindestens 700 000 Menschen kamen auf deutscher und sowjetischer Seite ums Leben – Soldaten und Zivilisten. Die Ende August 1942 bis Stalingrad vorgestoßene deutsche 6. Armee mit rund 280 000 Mann unter Generaloberst Friedrich Paulus wurde Ende November 1942 von der sowjetischen Armee eingekesselt. Trotz des Verbots Adolf Hitlers, zu kapitulieren oder auszubrechen, kapitulierte Paulus – nicht zuletzt wegen der desolaten Versorgungslage – am 31. Januar 1943 für den größten Teil seiner Truppen, die restliche Armee folgte der Kapitulation am 2. Februar 1943. Seit 1961 heißt Stalingrad Wolgograd.

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