„Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von den Einzelnen fordern müssen.“ Als Bundeskanzler Gerhard Schröder am 14. März 2003 dem Bundestag die Grundlinien seiner Agenda 2010 präsentiert, riskiert er viel – und bezahlt einen hohen Preis. Der SPD-interne Streit um seine Sozialreformen treibt Mitglieder und Wähler in die Arme der heutigen Linkspartei und kostet die rot-grüne Koalition zwei Jahre später die Macht. Eines der Herzstücke von Schröders Agenda, die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum neuen Arbeitslosengeld II, wird am 1. Januar zehn Jahre alt – besser bekannt als Hartz IV.
Bei Arbeitslosenzahlen von weit über vier Millionen ist die größte Sozialreform in der Geschichte der Bundesrepublik auch der verzweifelte Versuch, die ausufernde deutsche Arbeitsmarktbürokratie wieder vom Kopf auf die Beine zu stellen, nachdem ein Jahr zuvor ein Vermittlungsskandal mit geschönten Statistiken und Luftbuchungen im großen Stil die damalige Bundesanstalt für Arbeit erschüttert hat. Ein besonders plakatives Beispiel ist dabei das eines Studenten, der in der Adventszeit 40 Auftritte als Nikolaus absolviert und in der Statistik der Bundesanstalt anschließend 40-mal als „erfolgreich vermittelt“ geführt wird. Ein Drittel aller Vermittlungen, diagnostiziert der Bundesrechnungshof später, sei entweder nicht nachvollziehbar oder fingiert. Andere Schätzungen liegen deutlich darüber.
Benannt nach dem damaligen VW-Manager Peter Hartz, der die Reform mit einer von Schröder eingesetzten Expertenkommission entworfen hatte, soll das neue Konstrukt vor allem eines beenden: das ineffiziente Nebeneinander der kommunalen Sozialhilfe und der bundeseigenen Arbeitsämter, die sich bis dahin kaum um die vielen Langzeitarbeitslosen gekümmert haben, die in die Anonymität der Sozialhilfe abgerutscht sind.
„Fördern und fordern“
Schröder und sein damaliger Minister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement, versprechen mit der Fusion beider Systeme in den neuen Job-Centern eine Betreuung aus einer Hand, müssen aber erst einmal mit ansehen, wie die Zahl der Arbeitslosen weiter steigt, weil plötzlich auch die Bezieher von Sozialhilfe als arbeitslos geführt werden. Unterm Strich jedoch habe sich Hartz IV gelohnt, findet Frank-Jürgen Weise, Vorsitzender der Bundesagentur für Arbeit, wie die Nürnberger Behörde inzwischen heißt. „2005 hatten wir zeitweise 5,3 Millionen Arbeitslose“, sagt er heute. „Nun sind wir unter drei Millionen, das ist schon beachtlich.“
Die Kritiker von Schröder, Clement und Hartz dagegen sprechen vor zehn Jahren von „Armut per Gesetz“, weil die Sätze des neuen Arbeitslosengeldes II mit 359 Euro unter denen der alten Sozialhilfe mit 511 Euro liegen. Deutschland ist damals, ökonomisch betrachtet, der kranke Mann Europas. Jeder zehnte Erwerbsfähige hat keinen Job und in weiten Teilen Ostdeutschlands sogar jeder fünfte. Nach dem Motto „Fördern und fordern“ will die rot-grüne Koalition den Druck auf Arbeitslose erhöhen, sich eine Arbeit zu suchen – und gleichzeitig neue Anreize schaffen, zum Beispiel mit Zuschüssen für Erwerbslose, die sich selbstständig machen.
Innerhalb von vier Jahren will Schröder so die Arbeitslosigkeit halbieren, nicht ahnend, dass dann schon Angela Merkel im Kanzleramt sitzen wird. Nach wie vor leben mehr als 200 000 Menschen in Deutschland seit 2005 von Hartz IV, in den Sozialgerichten türmen sich die Klagen gegen falsche Bescheide und selbst der Erfinder der Reform, Peter Hartz, weiß zeitweise nicht mehr, ob er auf das noch stolz sein soll, was er da entwickelt hatte. „Herausgekommen ist ein System, mit dem die Arbeitslosen diszipliniert und bestraft werden“, schrieb er vor fünf Jahren. Heute urteilt er etwas milder: „Die Arbeitsmarktreform ist unter dem Strich ein Erfolg geworden.“