Kurz vor der Schlussabstimmung des türkischen Parlaments über die umstrittene Immunitätsaufhebung zur Strafverfolgung kurdischer Politiker an diesem Freitag hat der designierte neue Ministerpräsident Binali Yildirim klargemacht, dass er an der harten Linie gegen die Kurden festhalten will. Er werde gegen die „Heimsuchung des Terrorismus“ kämpfen, sagte Yildirim, ein Vertrauter von Präsident Recep Tayyip Erdogan, nach seiner Nominierung durch die Regierungspartei AKP. Die Kurdenpartei HDP warnte als Hauptbetroffene der geplanten Immunitätsaufhebung vor einer Radikalisierung der Kurden. Kritik kam auch von Bundestagspräsident Norbert Lammert.
Der 60-jährige Yildirim soll am Sonntag bei einem Sonderparteitag der AKP zum neuen Vorsitzenden gewählt werden; anschließend wird der bisherige Verkehrsminister von Erdogan mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt. In einer kurzen Rede betonte Yildirim, er werde in „totaler Harmonie“ mit Erdogan zusammenarbeiten, den er „unseren Anführer“ nannte.
Yildirims Vorgänger Ahmet Davutoglu war am 5. Mai unter Druck von Erdogan zurückgetreten, nachdem Spannungen zwischen ihm und dem Präsidenten aufgetreten waren. Beobachter in Ankara gehen davon aus, dass sich Yildirim dem Staatschef bedingungslos unterordnen wird. Seine Hauptaufgabe liegt in der möglichst raschen Einführung eines Präsidialsystems, auf das Erdogan dringt.
Auch in der Kurdenpolitik dürfte Yildirim den Vorgaben seines Chefs folgen. Erdogan bezeichnet die legale Kurdenpartei HDP als Handlanger der PKK-Rebellengruppe und fordert die Verurteilung führender HDP-Politiker durch die Gerichte. Im Parlament will die AKP die Aufhebung der Immunitäten aller 550 Abgeordneten durchsetzen, damit die Justiz vorliegende Ermittlungsverfahren gegen insgesamt 138 Politiker vorantreiben kann. 50 Betroffene sind HDP-Abgeordnete – fast die gesamte Fraktion der Kurdenpartei könnte damit bald aus dem Parlament fliegen.
„Repressives Regime“
In der ersten Lesung hatte der AKP-Entwurf für die Immunitätsaufhebung die erforderliche verfassungsändernde Mehrheit von mehr als 367 Stimmen klar verfehlt. Wiederholt sich das Stimmenergebnis bei der zweiten Lesung an diesem Freitag, wird das Thema voraussichtlich einer Volksabstimmung vorgelegt. HDP-Chef Selahattin Demirtas, der nach dem Willen Erdogans ebenfalls vor Gericht gestellt werden soll, sagte im Fernsehsender IMC-TV, mit einer Immunitätsaufhebung würde den Kurden „der Weg in die Berge gewiesen“, wo sie sich der PKK anschlössen. Zugleich werde der Glaube der Menschen an das demokratische System zerstört. Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) warf Erdogan wegen der geplanten Immunitätsaufhebung „autokratische Ambitionen“ vor. In der „Süddeutschen Zeitung“ kritisierte Lammert, der Plan setze „leider eine ganze Serie von Ereignissen fort, mit denen sich die Türkei immer weiter von unseren Ansprüchen an eine Demokratie entfernt“.
Auch Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer (CSU) kritisierte, mit dem Immunitäts-Plan „überschreitet Erdogan den Rubikon“. Spätestens jetzt dürfe die EU keine Visafreiheit für türkische Staatsbürger mehr beschließen.
Selbst alte Mitstreiter von Erdogan warnen vor einem zunehmend autokratischen Kurs des Präsidenten. In der Türkei drohe ein „repressives Regime“, sagte der AKP-Mitgründer und Ex-Regierungssprecher Bülent Arinc, der Erdogan und dessen Anhängern „Machttrunkenheit“ vorwarf. Die Geschichtsbücher seien voll mit Herrschern, die diesen Weg beschritten und ein bitteres Ende gefunden hätten, warnte Arinc.