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Erdogan treibt Menschen in die Flucht
Das war 2016: Der Druck der Erdogan-Regierung treibt Intellektuelle aus der Türkei. Ein Journalist schildert, warum er seine Heimat verließ. Wie er jetzt lebt. Und wie er darunter leidet, nicht in sein Land zurückkehren zu können.
Thomas Seibert
 |  aktualisiert: 05.01.2017 03:32 Uhr

Manchmal weiß Adem Yavuz Arslan nicht so recht, wie er seinem kleinen Sohn erklären soll, dass sich alles geändert hat im Leben der Familie. Etwa dann, wenn der Junge wieder einmal fragt, wann er denn das nächste Mal seinen Opa in der Türkei besuchen kann. Das sind Momente, in denen Arslan beinahe daran verzweifelt, dass er so weit weg ist von zu Hause. Die Aussichten, dass er mit der Familie bald wieder zu Opa in die Türkei fahren kann, sind äußerst gering.

Dabei ist es noch nicht allzu lange her, dass Arslan (42) ein angesehener Mann in der Türkei war. Der Journalist begleitete den Präsidenten Recep Tayyip Erdogan auf Reisen und trat als Chef des Hauptstadtbüros der Tageszeitung „Bugün“ („Heute“) in Polit-Talkshows im Fernsehen auf. Doch damit ist es aus und vorbei. „Bugün“ fiel dem Machtkampf zwischen Erdogan und der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen zum Opfer, und Arslan floh mit seiner Frau und seinen drei Kindern nach Washington. Er schlägt sich als Fahrer beim Taxi-Unternehmen Uber durch und schreibt hin und wieder eine Kolumne beim Gülen-nahen Online-Portal TR724.

Von der amerikanischen Hauptstadt aus beobachtet Arslan die Lage in Ankara und ringt mit der Frage, ob er seine Kinder nun als Amerikaner oder als Türken erziehen soll. Sind die USA die neue Heimat oder nur eine Zwischenstation? Hin- und hergerissen fühlt sich Arslan. „Es ist ein Konflikt zwischen Kopf und Herz“, sagt er. Doch vorerst kommt eine Rückkehr in die Türkei für ihn nicht in Frage, denn dort würde er wohl sofort in Haft genommen.

„Ich kann nicht heimkehren, solange Erdogan da ist“, sagt Arslan. Er weiß selbst, was dieser Satz bedeutet: Wenn der türkische Präsident seinen Willen bekommt und im neuen Jahr die Einführung eines Präsidialsystems durchsetzen kann, wird er bis zum Jahr 2029 mit weitreichenden Vollmachten im Amt bleiben können. Es könnte lange dauern, bis Arslans Sohn seinen Opa zu Hause besuchen kann.

Fast 150 Journalisten sitzen hinter Gittern

Und doch gehört Arslan zu jenen, die Glück gehabt haben. Fast 150 türkische Journalisten sitzen hinter Gittern, weil sie angeblich den Putschversuch vom Juli unterstützten oder der Erdogan-Regierung sonstwie geschadet haben sollen. Mehr als 100 000 Lehrer, Richter, Polizisten und Soldaten sind gefeuert oder suspendiert worden, etwa 40 000 mutmaßliche Gülen-Anhänger sitzen in Untersuchungshaft.

Es trifft nicht nur Arslans Kollegen aus der Gülen-Bewegung. Die Führungsspitze der Kurdenpartei HDP wurde ebenso abgeführt wie kurdische Journalisten, Politiker in der Provinz oder Intellektuelle und Menschenrechtler, die mit Veröffentlichungen und Kritik am Staat die Propaganda der verbotenen Arbeiterpartei PKK verbreitet haben sollen.

Erdogans Hexenjagd auf Andersdenkende hat tausende Türken aus dem Land getrieben und eine neue Diaspora geschaffen, deren Mitglieder über Deutschland, Schweden, Frankreich, die USA und andere Länder verstreut sind. Darunter sind Prominente wie der Journalist Can Dündar, der wegen seiner Syrien-Berichterstattung von Erdogan persönlich als Landesverräter bezeichnet wurde und sich in die Bundesrepublik absetzen konnte.

Auch die Soziologin Nil Mutluer, die sich in Berlin in Sicherheit bringen konnte, gehört dazu.

Verzweiflung und Angst vieler Türken seit der Putschnacht in ihrem Heimatland lassen sich auch aus der deutschen Asylstatistik herauslesen. Bis Anfang November stellten fast 4500 Türken in Deutschland einen Asylantrag – mehr als doppelt so viele wie im gesamten Jahr 2015. Noch vor ein paar Jahren war eine Rückkehr an den Bosporus für viele Auslandstürken eine verlockende Vorstellung. Jetzt wollen viele raus aus Erdogans Staat.

Deutschland ist für die Dissidenten nicht nur deshalb ein beliebtes Ziel, weil sie Verwandte oder Freunde unter den drei Millionen Türkischstämmigen in der Bundesrepublik haben. Die Bundesregierung hat die Erdogan-Gegner gewissermaßen öffentlich eingeladen: „Alle kritischen Geister in der Türkei sollen wissen, dass die Bundesregierung ihnen solidarisch beisteht“, sagte der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD), im November in der „Welt“. Er verwies auf „verschiedene Programme, die auch türkischen Wissenschaftlern und Journalisten offen stehen“. Es sind keine Massen, die über die Grenzen ins westliche Ausland abwandern, doch „Flüchtling zu sein, ist jetzt eine türkische Realität“, sagt Arslan.

Die Verbindungen in die Heimat werden über Telefon und Internet gehalten

Über Telefon und Internet bleiben die Vertriebenen mit Gleichgesinnten in Verbindung. Sie tauschen Neuigkeiten aus und reden über die Ereignisse in der Heimat. Wer ist verhaftet worden? Wer hat es geschafft, noch aus dem Land zu kommen? Wie bringt man das Ersparte außer Landes, bevor es beschlagnahmt wird? Wenn man mit den Exilanten redet, fühlt man sich an die Geschichten deutscher Nazi-Gegner erinnert, die in den 1930er Jahren aus ihrer Heimat flohen; ironischerweise fanden damals viele von ihnen, darunter der spätere Berliner Bürgermeister Ernst Reuter, Zuflucht in der Türkei.

Selbst tausende Kilometer von der Türkei entfernt sind Erdogan-Gegner nicht vor Anfeindungen sicher. So warfen Erdogan-treue Kommentatoren dem im Exil lebenden Journalisten Abdullah Bozkurt vor, er habe von dem Plan zur Ermordung des russischen Botschafters Andrej Karlow durch einen türkischen Polizisten in Ankara gewusst. Bozkurt steht der Gülen-Bewegung nahe – die nach Erdogans Behauptung nicht nur den Putschversuch vom Juli organisierte, sondern auch den Botschaftermord.

Arslan musste ebenfalls erfahren, dass Washington nicht weit genug von Ankara entfernt ist, um ihn bei seinen Widersachern in Vergessenheit geraten zu lassen. Im Sommer tauchten Berichte in regierungstreuen türkischen Medien auf, die den früheren „Bugün“-Bürochef in legerer Kleidung beim Einkaufen zeigten. Arslan, so hieß es in den Berichten, sei ein hohes Tier in der Gülen-Bewegung und lebe in den USA in Saus und Braus. Arslan kann das angesichts seiner bescheidenen Lebensumstände nicht fassen: „Ich bin ein Uber-Fahrer“, ruft er aus.

Doch auch wenn an eine baldige Heimkehr in die Türkei nicht zu denken ist – die Sehnsucht nach der Heimat lässt die Geflohenen nicht los. Auch Arslan will zurück. Denn die Türkei ist sein Land. Und in der Türkei lebt der Opa seines Sohnes.

 
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