Der Autor Hasan Cemal gehört zu den erfahrensten und angesehensten Beobachtern der türkischen Politik, doch selbst für ihn ist die Lage im Land zehn Tage vor der Parlamentswahl am 7. Juni einzigartig. Seit fast einem halben Jahrhundert sei er nun Journalist, schrieb Cemal am Dienstag in einem Beitrag für das Internetportal „T24“. Doch was Präsident Recep Tayyip Erdogan derzeit abliefere, sei noch nie dagewesen und eine „Schande“.
Cemal meinte nicht nur die Art und Weise, wie sich Erdogan trotz des Verfassungsgebots der parteipolitischen Neutralität des Staatspräsidenten im Wahlkampf für seine Partei AKP engagiert. Er verwies auch darauf, wie Erdogan alle Medien attackiert, die nicht völlig auf seiner eigenen Linie liegen. Für Erdogan sei jeder, der nicht denke wie er selbst, ein Putschist, ein Verräter und ein Verschwörer, schrieb Cemal.
Das gilt nicht nur für die Türkei. In einer Rede griff Erdogan jetzt die „New York Times“ an, die in einem Kommentar den Druck auf die Medien in der Türkei kritisiert und die USA und andere Nato-Partner Ankaras aufgerufen hatte, Erdogan zum Umdenken zu bewegen. „Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“ fragte Erdogan an die US-Zeitung gerichtet. In offenkundiger Verkennung der Pressefreiheit in den USA fügt er hinzu, die US-Behörden wären mit Sicherheit eingeschritten, wenn die „New York Times“ einen solchen Kommentar über die Regierung in Washington veröffentlicht hätte. Das US-Blatt habe sich in die inneren Angelegenheiten der Türkei eingemischt.
Drohung an „Hürriyet“
Als ob das nicht schon genug wäre, sagte Erdogan weiter, wenn die Türkei erst einmal das von ihm geforderte Präsidialsystem eingeführt habe, dann sei Schluss mit Versuchen der Presse, die Regierung zu gängeln. Derzeit laufe ein solcher Versuch, betonte der Präsident in Anspielung auf den Dogan-Medienkonzern, zu dem unter anderem die Zeitung „Hürriyet“ gehört. Die Drohung war unüberhörbar.
Erdogan und der Dogan-Konzern sind sich seit Jahren in herzlicher Abneigung verbunden. In den ersten Jahren der AKP-Regierungszeit ab 2002 gehörte „Hürriyet“ zu jenen Blättern, die voller Misstrauen auf das islamisch-konservative Kabinett Erdogan in Ankara schauten. So kritisierte „Hürriyet“ unter anderem die Bemühungen Erdogans, das islamische Kopftuch für Studentinnen zu erlauben. Erdogan überzog den Konzern mit milliardenschweren Steuerforderungen.
Jetzt hat der Präsident einen neuen Angriff auf die „Hürriyet“ gestartet. Nach dem kürzlichen Todesurteil gegen den ägyptischen Ex-Präsidenten Mohammed Mursi titelte das Blatt, das Urteil richte sich gegen einen Staatschef, der mit 52 Prozent gewählt worden sei. Da auch Erdogan im vergangenen Jahr mit 52 Prozent zum Präsidenten gewählt wurde, warf er der Zeitung vor, mit der Mursi-Schlagzeile in Wirklichkeit ihn selbst gemeint und mit dem Tode bedroht zu haben.
So absurd es klingen mag: Ein Erdogan-Anhänger reichte daraufhin Strafanzeige ein und verlangte die Inhaftierung des Chefredakteurs der „Hürriyet“, Sedat Ergin. Auch andere regierungskritische Medien geraten unter neuen Druck. So muss sich das Enthüllungsblatt „Taraf“, das Erdogan schon mehrmals geärgert hat, zum vierten Mal innerhalb von drei Jahren einer Steuerprüfung unterziehen.
Einigen Berichten zufolge gehört die Kampagne gegen die Medien zu Erdogans Strategie vor der Wahl am 7. Juni. Der Präsident brauche dringend ein neues Feindbild, um seine Anhänger angesichts sinkender Umfragewerte für die AKP zu motivieren, schrieb Twitter-Phänomen „Fuat Avni“. Hinter dem Namen verbirgt sich ein anonymes Mitglied des türkischen Führungszirkels, der auf Twitter regelmäßig Interna aus Ankara ausbreitet und sehr häufig Polizeiaktionen oder andere Schritte gegen Regierungsgegner präzise voraussagt.