Drei Tage und 22 Stunden: So lange war der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nach der Wahl vom vergangenen Sonntag abgetaucht. Am Donnerstag trat der 61-Jährige bei einer Rede in Ankara zum ersten Mal seit dem Wahldebakel für seine Partei AKP vor die Öffentlichkeit – und verblüffte viele Türken. Statt die üblichen ruppigen Angriffe auf die Opposition zu starten, gab sich der Präsident staatstragend. Erdogan habe kein einziges Mal „Verräter“ oder „Kreuzzügler“ gesagt, staunte der Journalist Cafer Tayya Kala nach der Rede: „So was sind wir nicht gewohnt.“
Selbst die Kritik westlicher Medien an seinem autokratischen Führungsstil nahm Erdogan gelassen: Wenn von dieser Seite Lob für ihn käme, müsste er ja an sich zweifeln, sagte der Präsident. Der Wähler habe entschieden, keine Partei mit der absoluten Mehrheit der Sitze im Parlament zu betrauen, sagte Erdogan. Die Demokratie erfordere deshalb eine Lösung, bei der die Parteien zusammenarbeiten müssten; jeder müsse sein Ego hintanstellen. Eine schnelle Regierungsbildung sei gefragt.
Botschaft der Wähler verstanden?
Zu den Konstellationen, die in Ankara diskutiert werden, gehört eine große Koalition zwischen Erdogans islamisch-konservativer AKP und der säkularistischen CHP. Erdogan hatte am Mittwoch mit dem prominenten CHP-Politiker Deniz Baykal erste Kontakte geknüpft. Auch eine Koalition aus der AKP und der Nationalistenpartei MHP gilt als möglich.
Statt dem „Ich“ müsse das „Wir“ in den Vordergrund gerückt werden, sagte Erdogan. Mit seinem betont gemäßigten Auftreten will der Präsident den Weg für eine schnelle Regierungsbildung ebnen und zudem weitere Sympathieverluste für sich selbst und die nach den langen Jahren an der Macht zuweilen arrogant wirkende AKP verhindern. Der Präsident habe die Botschaft der Wähler verstanden, meinte der Journalist Yalcin Dogan. Wie lange Erdogan seinen staatstragenden Stil beibehalten wird, ist offen.
Eine große Koalition aus AKP und CHP hätte im Parlament eine Zweidrittelmehrheit und könnte damit auch die überfällige demokratische Neufassung der noch aus der Zeit des Militärputsches von 1980 stammenden Verfassung angehen. Die CHP verlangt allerdings, dass in der neuen Legislaturperiode die Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung aus dem Jahr 2013 erneut aufgegriffen werden. Die MHP bereitet bereits Anträge zur Einrichtung entsprechender Untersuchungsausschüsse vor.
Einige CHP-Anhänger fordern, die Erdogan-Partei in die Opposition zu verbannen. Sie schlagen vor, die CHP solle ein zeitlich und thematisch begrenztes Bündnis mit der MHP und der Kurdenpartei HDP eingehen, um Missstände der AKP-Regierungszeit aufarbeiten zu können. Solch eine Allianz erscheint jedoch besonders wegen der scharfen Gegensätze zwischen MHP und HDP unwahrscheinlich.
Auch Erdogan selbst bildet ein Problem bei der Suche nach einer neuen Regierung. CHP und MHP bestehen auf festen Verabredungen zur Begrenzung der Rolle des Präsidenten. Bisher hatte Erdogan trotz der Neutralitätspflicht für den Staatspräsidenten ganz offen die Fäden in der AKP und der Regierung gezogen.
Klagewelle gegen Prunkpalast
Erdogans umstrittener Palast in Ankara wird ebenfalls erneut zum Thema. Die Justiz hatte den 500 Millionen Euro teuren und in einem geschützten Parkgelände errichteten Komplex kürzlich zum Schwarzbau erklärt. Nun rollt eine neue Klagewelle mit dem Ziel, Erdogan aus dem Palast zu vertreiben. Die bisherige Opposition boykottiert den Palast ohnehin: Als sich Erdogan am Mittwoch mit dem CHP-Politiker Baykal traf, bestand dieser auf einem Gespräch in einem Gästehaus der Regierung.
Selbst in der Umgebung von Erdogans altem Gefährten, dem Ex-Präsidenten Abdullah Gül, wird inzwischen gefordert, Erdogan solle den Palast aufgeben. Als Zeichen des guten Willens gegenüber dem künftigen Koalitionspartner der AKP solle Erdogan von sich aus aus dem Palast ausziehen, schrieb der Journalist Fehmi Koru, der Gül sehr nahesteht.