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Entzauberer des Bösen
Nationalsozialismus: 2015 wird Bayern die Urheberrechte für Hitlers Buch „Mein Kampf“ verlieren – 70 Jahre nach dem Tod des Diktators. Bis dahin versucht das Münchner Institut für Zeitgeschichte, eine kommentierte Ausgabe zu erarbeiten.
Von unserem Mitarbeiter Josef Karg
 |  aktualisiert: 07.01.2016 14:51 Uhr

Das ist er also, der Giftschrank. Unscheinbar, grau und verschlossen. In Bibliotheken heißt der Giftschrank so, weil darin das Verbotene verwahrt wird. Als Caroline Lamey-Utku, die stellvertretende Leiterin der Bibliothek am Institut für Zeitgeschichte (IfZ), vorsichtig das Türchen des Metallkastens öffnet, steht es da, das Buch des Bösen: Hitlers Bekenntnisschrift „Mein Kampf“. Sie reicht eine Ausgabe herüber; es fühlt sich seltsam an, dieses Werk erstmals in Händen zu halten. Auf dem grauen Titel ist ein schwarzes Schwert abgebildet, das wie ein umgedrehtes Kreuz aussieht. Das Buchformat ähnelt dem der Bibel. Wie sich später herausstellt, ist es mit 12 mal 18,9 Zentimetern genauso groß. Einbildung oder Tatsache – von dem Buch geht eine negative Energie aus. Man möchte es nicht im Schlafzimmer liegen haben.

Verwunderlich ist, wie viele Ausgaben es gibt und in wie vielen Sprachen „Mein Kampf“ erschienen ist. Finnisch, Japanisch, Spanisch, Französisch. Als Goldschnitt, als Jubiläums- oder Hochzeitsedition – es sind über 40 Ausgaben. Ehepaare bekamen das Buch in der NS-Zeit bei der Hochzeit auf dem Standesamt geschenkt. Anstelle der Bibel.

Natürlich steht „Mein Kampf“ nicht nur in der Bibliothek des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, wo man den Nationalsozialismus bereits seit 1949 erforscht. Experten vermuten, dass es nach wie vor in Tausenden deutscher Haushalte liegt. Zwölf Millionen Mal wurde es gedruckt.

Für die einen ist es das gefährlichste Buch des 20. Jahrhunderts. Für die anderen ein Machwerk irgendwo zwischen Größenwahn und germanischer Verklärung. In drei Jahren nun, 2016, soll die Schrift, in der Hitler seine Weltanschauung und politischen Ziele in ausufernden, pathetischen Worten darlegt, erstmals nach 1945 wieder in Deutschland neu aufgelegt werden. Das Institut für Zeitgeschichte will „Mein Kampf“ nach dem Auslaufen der Urheberrechte 2015 als wissenschaftlich kommentierte Ausgabe herausbringen. In Auftrag gegeben hat dies Bayerns Finanzminister Markus Söder. Das Land hatte sich nach dem Krieg die Rechte von den Alliierten gesichert, weil Hitlers letzter gemeldeter Wohnsitz lautete: München, Prinzregentenplatz 16.

Politisch ist die Veröffentlichung delikat. Lange hatte man im Freistaat die Lösung des Problems aufgrund der auslaufenden Urheberrechte vor sich hergeschoben. Erst vor knapp einem Jahr lud Söder Fachleute zu einem runden Tisch nach Nürnberg ein. Die Experten schlugen vor, „Mein Kampf“ zu entmystifizieren. Schüler sollten aufgeklärt werden. Der Finanzminister – und nicht nur er – befürchtet, der Wegfall der Urheberrechte könnte zu „einer verstärkten Verbreitung des Werks bei Jugendlichen führen“.

Wenige Monate später reiste Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer nach Israel – und stieß auf entgeisterte Gesichter seiner Gesprächspartner, die von dem Plan erfahren hatten, Hitlers Machwerk neu aufzulegen. Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, die zunächst für eine Veröffentlichung gestimmt hatte, machte prompt einen Rückzieher.

Bis heute kann sich Institutsleiter Professor Andreas Wirsching, der jahrelang an der Universität Augsburg gelehrt hat, nicht definitiv sicher sein, dass er 2016 die kommentierte Ausgabe in die Läden bringen darf. Das gilt auch für Unterrichtsmaterialien, die andere Einrichtungen zu dem Thema vorbereiten. Eine vom Landtag eingesetzte Kommission prüft noch, ob „Mein Kampf“ auch künftig verboten werden kann. Wirsching glaubt allerdings nicht, dass es so kommen wird. Im Gegenteil: „Der Text ist ohnehin im Internet und in Antiquariaten problemlos zu bekommen.“ Die Ausgabe der Historiker komme schon reichlich spät: „Man hätte sie auch in den 90er Jahren haben können.“ Deutschland sei längst reif, um sich ein eigenes Bild von Hitlers Buch zu machen.

Um die Schrift gab es immer wieder Auseinandersetzungen. Der britische Verleger Peter McGee wollte seiner Wochenzeitung „Zeitungszeugen“ bereits 2009 kommentierte Auszüge daraus beilegen. Das Münchner Landgericht verbot die Veröffentlichung. Bayern hatte einen Antrag auf einstweilige Verfügung gestellt. Um ähnlichen kommerziell oder ideologisch gesteuerten Projekten gewissermaßen das Wasser abzugraben, sollen nun also die IfZ-Forscher ran. Das Land unterstützt sie mit einer halben Million Euro.

Die außeruniversitäre Wissenschaftsstätte liegt in der Leonrodstraße in einem Münchner Wohnviertel. Hier, in einem unscheinbaren grauen Waschbetonbau aus den 70er Jahren, arbeitet Deutschlands vielleicht bestes NS-Forscherteam an der Entzauberung des Hitler'schen Mythos. Die Büros in dem mehrstöckigen Gebäude entsprechen nicht den Klischees vom verstaubten Historiker-Kämmerlein. Das Design der Sitzmöbel und Teppiche wird von knallig gelben und orangefarbenen Tönen bestimmt.

Auf Knalleffekte setzt Wirsching bei seinem Projekt allerdings nicht. Im Gegenteil: „Es wird unter Hochdruck und ganz präzise daran gearbeitet, um Pannen zu vermeiden.“ Es ist einfach so, dass nichts schiefgehen darf. Das Ergebnis wird von Fachwelt und Politik in der ganzen Welt unter die Lupe genommen. Schlaflose Nächte habe er deswegen nicht, sagt Wirsching. Aber: „Die Sache muss richtig gut werden, sie muss Maßstäbe setzen.“

Einige Meter weiter sitzt derjenige, der dafür zuständig ist. Christian Hartmann, 53, der Projektleiter. An seiner Bürotür klebt ein aus der „Bild“-Zeitung ausgeschnittener Schnipsel mit dem witzig gemeinten Bekenntnis: „Günther Grass: Ich schrieb ,Mein Kampf‘.“ Über die Qualität von Hartmanns Arbeit sagt dies nichts aus. Der Mann gilt, was Nazi-Literatur betrifft, als Koryphäe und hat bereits die kommentierte zwölfbändige Ausgabe von Hitlers „Reden, Schriften und Anordnungen 1925 bis 1933“ herausgegeben. Vor Filmprojekten wie bei Bernd Eichingers „Der Untergang“ oder Marc Rothemunds „Sophie Scholls letzte Tage“ holten sich die Drehbuchschreiber seinen Rat.

Das Team des gebürtigen Heidelbergers besteht aus fünf IfZ-Wissenschaftlern, sechs externen Spezialisten und mehreren freien Mitarbeitern. Um Hitlers Gedankenwelt ergründen, beurteilen und kommentieren zu können, bringen Forscher unterschiedlichster Fachrichtungen wie Judaisten, Humangenetiker, Germanisten und selbst Japanologen ihr Wissen ein.

Weil das Institut aus allen Nähten platzt, sind die Mitarbeiter im Besprechungszimmer untergebracht. An einem ausladenden Konferenztisch sitzen an diesem Vormittag die promovierten Historiker Thomas Vordermayer und Pascal Trees. Sie durchforsten die „Bibel der Nazis“ so exakt, dass sie auch die Nadel im Heuhaufen finden würden. Später sollen ihre Kommentare ein Drittel des Buches ausmachen. Die Bezeichnung Bibel kann man Hartmann zufolge übrigens wörtlich nehmen. Das Schwert auf dem Buchdeckel mancher Ausgaben könne man auch als Kreuz deuten.

Wort für Wort, Satz für Satz sezieren die Experten das Buch. Sie versuchen, den Ursprung, die Gedanken Hitlers so sauber zu recherchieren, wie es nur eben geht. „Hitler hatte seine Halbbildung und Ideen oft nicht aus klassischen Lexika oder anderen Werken, sondern aus bunten Blättchen erworben, wie sie zu dieser Zeit massenhaft auf dem Markt waren“, berichtet Trees.

Gespeist aus diesen Quellen entstand „Mein Kampf“. Hitler schrieb den ersten Teil 1924 während seiner Festungshaft in Landsberg am Lech. Er soll den Text seinem späteren Stellvertreter Rudolf Heß diktiert haben, war lange Zeit gängige Meinung. Hartmann weist jedoch darauf hin, dass die Behauptung von der neueren Forschung widerlegt wurde: „Hitler hat sich gewissermaßen als eine Art Religionsgründer gesehen, in seine Zelle zurückgezogen und den Text großteils eigenhändig auf einer Reiseschreibmaschine getippt.“ Erst nach dem Ende der Sowjetunion zugängliche Quellen würden dies belegen.

Hitler schrieb das schwer zu lesende Buch in einer Zeit, in der er politisch scheinbar gestrandet war. Der gescheiterte Putschversuch, der Prozess, das Redeverbot, die Haft – es sei ihm darum gegangen, eine neue Ideologie basierend auf den Prinzipien von Rassismus, Gewalt und Imperialismus zu skizzieren. Natürlich sei es schlecht geschrieben, langatmig und unstrukturiert, sagt Hartmann, gekennzeichnet auch von stereotypen Wiederholungen seines Wortschwalls. Andererseits zeige sich aber, wie die Wirklichkeit des späteren Dritten Reiches schon dort angelegt sei. „Man sieht, welche Sprengkraft darin steckt. Wer wollte, konnte damals bereits die Ankündigung des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs erkennen.“

Dass „Mein Kampf“ weltweit nach wie vor eine gewisse Faszination ausstrahlt, zeigen beispielsweise Buchmärkte in vom Zweiten Weltkrieg verschonten Ländern wie der Türkei oder Indien. Ende 2004 wurde das Schlüsselwerk der Nazi-Ideologie fast gleichzeitig von 15 türkischen Verlagen auf den Markt gebracht. Man schätzt die Verkaufszahlen auf über 100 000 Exemplare. Im März 2007 stand das Buch auf Rang drei der Bestsellerliste der größten türkischen Buchhandelskette. Kurz darauf machte der Freistaat Bayern dem Spuk ein Ende und bewirkte, dass türkische Gerichte das Buch verboten.

Dafür feiert die Kampfschrift neue Erfolge in Indien. Hartmann klickt die E-Mail eines Bekannten an. Auf Fotos aus seriös wirkenden Buchhandlungen wird der deutsche Diktator direkt neben Mahatma Gandhi mit großflächigen Plakaten beworben. Filme mit Titeln wie „Held Hitler verliebt“, eine Komödie über einen cholerischen Mann, oder „Gandhi an Hitler“, ein wohlwollendes Porträt über die letzten Tage des Diktators, werden in Bollywood produziert. Hartmann schüttelt den Kopf über derartige Phänomene. Er kann sie erklären mit der Magie des Bösen. Nachempfinden kann er sie nicht.

Das Forscherteam will dafür sorgen, dass so etwas in Deutschland nicht passiert. „Unser Ziel ist es, Hitlers Behauptungen mit dem Stand des heutigen Wissens zu konfrontieren.“ Es soll klar werden, wie seine Ideologie funktionierte. Hartmann sagt: „Wir bauen mit wissenschaftlichen Mitteln den Zünder aus diesem Buch aus wie bei einer alten Granate.“ Er sagt aber auch: „Man wird sich an den Anblick gewöhnen müssen, dass Adolf Hitler in Deutschland neben Harry Potter auf einem Stapel liegen könnte.“

Fakten zu „Mein Kampf“

Im Juli 1925 erschien der erste Band von „Mein Kampf“, im Dezember 1926 der zweite – Auflage: jeweils 10 000 Exemplare. Ab 1933 schnellte die Auflage in die Höhe, bis 1944 erreichte sie 10,9 Millionen Stück. Bis 1930 vertrieb der Franz-Eher-Verlag, der Zentralverlag der NSDAP, „Mein Kampf“ in zwei großformatigen Bänden zum Preis von zunächst je zwölf, ab 1928 14 Reichsmark. Dann wurden die beiden Bände zu einer einbändigen „Volksausgabe“ zusammengefasst. „Mein Kampf“ darf in Deutschland nicht mehr nachgedruckt werden. Der Bundesgerichtshof entschied, dass der Besitz und die Verbreitung des Buches, zum Beispiel in Antiquariaten, nicht strafbar ist. Quelle: Wikipedia / Illustration: Maria Martin FHWS GEstaltung

 
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