Obst, Gemüse, alles zu Hartz-IV-Preisen“ schreit Muhammet Ekin quer über den Wochenmarkt von Gelsenkirchen-Horst. Ein paar Passanten grinsen müde, der Händlerspruch ist anscheinend nicht mehr ganz neu. Und auch nicht ganz unzutreffend. Hier, im tiefsten Ruhrgebiet, dem einstigen Kohlenpott der Nation, leben so viele Menschen in Armut, wie in kaum einer anderen Region Deutschlands. Die Marktbesucher, die jeden Apfel aus Ekins Kisten zweimal umdrehen, müssen das wohl auch mit jedem Euro tun. Vor dem Stand nebenan rauchen zwei Männer in ausgeleierten Trainingsanzügen selbst gedrehte Zigaretten, während ihre Frauen ausdauernd im Wühltisch mit den bunten Glitzerblusen für 99 Cent kramen. Plötzlich biegt eine blonde Frau in einem T-Shirt mit bunten Farbklecksen unter dunkelblauem Trenchcoat um die Ecke. Nicht jeder erkennt die Ministerpräsidentin gleich. Muhammet Ekin schon: „Sie sind doch Hannelore Kraft, stimmt?s?“ Der Händler türkisch-libanesischer Herkunft ist begeistert: „Schön, dass Sie hier sind, dass Sie sich für die einfachen kleinen Leute Zeit nehmen.“
Die Regierungschefin von Nordrhein-Westfalen nickt zufrieden. Was der Gemüsemann sagt, entspricht genau dem Bild, das sie so sorgfältig von sich pflegt: Landesmutter, Kümmerin, Streiterin für die Abgehängten, die Armen, die Kranken, die sozial Schwachen, die Alten. In Gelsenkirchen mit seinen 260 000 Einwohnern liegt vieles im Argen, das sagen auch die örtlichen SPD-Leute: Die Arbeitslosigkeit ist seit der Schließung der Zeche Nordstern 1982 hoch, die Kriminalitätsrate ebenso. Für junge Menschen scheint die Zukunft düster, wer kann, zieht weg.
Hannelore Kraft, die 55-jährige SPD-Politikerin aus Mühlheim an der Ruhr, Tochter eines Straßenbahnfahrers und einer Schaffnerin, will am Sonntag zum dritten Mal nach 2010 und 2012 zur Ministerpräsidentin gewählt werden. Doch in den Umfragen hat ihr Konkurrent Armin Laschet von der CDU zu ihr aufgeschlossen. Gleichzeitig schwächeln die Grünen, mit denen sie eine Koalition bildet. Zudem ist die FDP erstarkt und an den Rändern des Spektrums wildern AfD und Linke auch im traditionellen SPD-Revier.
Im Endspurt kommt es jetzt auf jeden Wähler an und so legt sich Hannelore Kraft noch einmal mächtig ins Zeug. „Was kann ich tun“, fragt sie bei ihrem Rundgang über den Markt immer wieder. In vielen Antworten geht es darum, dass die Hartz-IV-Sätze deutlich steigen müssten. Die Renten natürlich auch. Und die Löhne. Kraft, die studierte Betriebswirtin, wendet sich den Leuten zu, nickt verständnisvoll. Und sagt immer wieder Sätze wie: „Wir setzen uns dafür ein, dass keiner abgehängt wird.“ Oder: „Wir wollen Arbeitnehmer konkret entlasten.“ Allgemein gehaltene Aussagen, doch ihre Augen drücken dem Gegenüber aus: Ich kümmere mich um dich. Die Ministerpräsidentin verteilt rote Rosen, posiert mit der Spargelfrau für ein Selfie, schüttelt Senioren die Hände.
Als ein Foxterrier das Bein der Spitzenpolitikerin beschnuppert, gibt sie sich als Hundeliebhaberin zu erkennen. Leider sei ihr Labrador vor kurzem gestorben. Kraft wirkt milde und menschlich. Doch das ändert sich schlagartig, wenn Kritik kommt, was auch in der SPD-Hochburg nicht ausbleibt. Dann reagiert Hannelore Kraft brüsk, fast pampig.
Als ein Mann über den allgegenwärtigen Stau klagt, ein Reizthema im dicht bevölkerten Nordrhein-Westfalen mit seinem überlasteten Straßennetz, schnauzt die Landesmutter: „Die vielen Baustellen müssen Sie als Beweis sehen, dass etwas vorangeht.“ Nachzuhaken traut sich der Mann nicht mehr.
Eine Frau, die aufzählt, dass vieles im Land im Argen liege, etwa an den Schulen, und dann klagt, für die Flüchtlinge seien ja auch Gelder da, weist Kraft zurecht. „Niemandem wurde wegen der Flüchtlinge etwas weggenommen.“ Und die Zuwanderer wirkten sogar wie eine Art Konjunkturprogramm, weil nun neue Kindergartenplätze oder Wohnungen entstünden. Auch bei Kritik an der Sicherheitslage im Land oder an ihrem umstrittenen Innenminister Ralf Jäger schaltet sie sofort von leutselig auf einsilbig. Trotzdem: Als die Ministerpräsidentin nach dem Marktbummel wieder in ihren schwarzen Dienst-Audi steigt, hat sie offenkundig ein paar neue Anhänger gewonnen. Gemüsehändler Muhammet Ekin etwa, der sein Kreuz nun bei der SPD machen will.
Ganz in der Nähe hat auch die CDU einen Stand aufgebaut, doch den beachtet kaum einer. Ein langjähriger Kommunalpolitiker der CDU schüttelt den Kopf über den Rummel um Hannelore Kraft: „Die SPD könnte hier auch einen Besenstiel aufstellen, den würden die Leute trotzdem wählen.“ Doch Nordrhein-Westfalen bestehe ja zum Glück nicht nur aus dem Ruhrgebiet mit seinen zehn Millionen Einwohnern und den vielen Problemen.
Darauf ruhen die Hoffnungen der Kraft-Gegner: In NRW leben 18 Millionen Menschen und im Münsterland, in Ostwestfalen oder im Rheinland liegen die Dinge oft ganz anders. Zwischen Gelsenkirchen-Horst und Rheinbach etwa liegen nicht nur 126 Kilometer. Sondern in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht Welten. „Der Laschet kütt“, heißt es am selben Tag in der 27 000-Einwohner-Stadt im Rhein-Sieg-Kreis. Mit einem stattlichen Reisebus, auf dem sein Konterfei prangt, seiner mobilen Wahlkampfzentrale rollt der Hoffnungsträger der CDU mit seinem Kampagnen-Tross ins Zentrum einer scheinbar heilen Welt.
Die Straßen, die Kirche, das historische Rathaus, alles frisch saniert, Gaststätten werben mit frischem Spargel aus der Region, in der schmucken Hauptstraße reiht sich ein schicker Laden an den nächsten. Die meisten sind noch inhabergeführt, erzählen die Leute von der örtlichen CDU ihrem Spitzenkandidaten. Armin Laschets Heimatstadt Aachen ist nicht allzu weit entfernt. Und als Vorsitzender der Landes-CDU weiß er, dass er sich hier, im Speckgürtel von Köln und Bonn, in einer Hochburg der Christdemokraten befindet. Für soziale Fragen ist nicht die SPD zuständig, sondern die katholische Kirche.
Laschet, der einmal als Journalist gearbeitet hat, lässt sich von den Parteifreunden durch den Ort führen, lächelt dabei freundlich und stellt interessierte Fragen. Für einen älteren Einwohner wirkt er, als könne er „kein Wässerchen trüben“. Im dunkelblauen Anzug und mit polierten Schnallenschuhen erscheint er bei der Stippvisite im Optikerladen mit den Designerbrillen fast wie der Besitzer. Der echte Inhaber erklärt, dass er dank einer hohen Investition maßgeschneiderte Kontaktlinsen anbieten kann. Laschet ist interessiert, doch für ihn kämen Linsen nicht in Frage: „Eine Brille schmückt ja auch“, sagt er. Die weiteren Gespräche drehen sich vor allem um die örtliche Wirtschaft.
Anschließend gratuliert er im katholischen Pfarrzentrum St. Martin noch einer sorgfältig frisierten Dame zum 90. Geburtstag. „Ein netter Mann“, sagt sie. Die Seniorin meint es als Kompliment, doch in der Partei sehen manche genau das als Schwäche: Laschet sei zu brav, ihm fehle mitunter der Biss, der unbedingte Kampfeswille. Als ob er seine Kritiker widerlegen wollte, zeigt Laschet kurz darauf im Nachbarort Meckenheim seine aggressive Seite. Vor rund hundert Bürgern zerpflückt er die Politik von Hannelore Kraft und ihrer Regierung. Die sei in allen Politikfeldern grandios gescheitert. Schulen seien sträflich vernachlässigt worden. „Hannelore Kraft sagt seit Jahren, dass sie kein Kind zurücklassen will. Stattdessen steigt in NRW die Kinderarmut und immer mehr Unterricht fällt aus“, redet sich Laschet in Rage. Sozial gerecht, das sei für ihn nicht, die Hartz-IV-Sätze zu erhöhen, sondern Kindern durch Bildung aus Hartz-IV herauszuhelfen.
SPD-Innenminister Ralf Jäger habe völlig versagt, nicht nur im Fall des Berlin-Attentäters Anis Amri. „Was in der Silvesternacht in Köln 2015 passiert ist. . . Hätten Sie sich das am Münchner Hauptbahnhof vorstellen können?“, fragt Laschet in die Runde. Anhaltender Applaus. Laschet lächelt wieder sein Kann-kein-Wässerchen-trüben-Lächeln. Es läuft für ihn. Zumindest in Städten wie Rheinbach und Meckenheim. Vielleicht hat er ja gerade hier und heute die entscheidenden Stimmen geworben. Genau das mag sich Hannelore Kraft nach ihrem Besuch in Gelsenkirchen-Horst auch gedacht haben.