Joao Gonçalves lebt seit 17 Jahren in einem Hotel am Strand, doch der 45-Jährige war noch nie im Urlaub. In dem Hotel teilen sich 3700 Menschen vier Toiletten, es gibt weder Strom, noch fließend Wasser, vor drei Jahren brach die Cholera aus. Wenn der Mosambikaner morgens aufwacht, ist er froh, dass er noch lebt, dass die monströse Ruine, an deren Fundamenten das Meer nagt, nicht über Nacht über ihm zusammengebrochen ist. Gonçalves ist so etwas wie der Direktor des „Grande Hotels“ in der mosambikanischen Hafenstadt Beira. Die Flüchtlinge, die vor über 30 Jahren eines der damals größten und luxuriösesten Hotels Afrikas in eines der größten besetzten Häuser der Welt verwandelten, haben ihn zu ihrem Bürgermeister ernannt.
Vorbei am leeren Fahrstuhlschacht, der jetzt als Müllkippe dient, steigt Gonçalves während seines täglichen Kontrollganges die Treppe hoch. Früher bedeckten dicke Teppiche die Stufen, jetzt wächst Schimmel auf dem nackten Beton. Den Marmor, die eleganten Geländer, die edlen Mahagoni-Vertäfelungen, selbst die Stahlseile, die die reichen Hotelgäste im Lift zu ihren Suiten schweben ließen, haben Plünderer längst abmontiert. Sie rissen die Rohre von den Decken und meißelten die Leitungen aus dem Boden. Alles, was sich zu Geld machen ließ und was an die prächtige Vergangenheit des Hotels erinnerte, ist längst verschwunden.
Als Gonçalves auf dem Dach angekommen ist, atmet er tief durch. Das Dach ist der einzige Ort, an dem es nicht nach Urin, Kohlefeuer, billigem Schnaps oder getrocknetem Fisch stinkt. Keine 200 Meter sind es bis zum Strand des Indischen Ozeans. Vor fast 60 Jahren brieten dort oder am Pool die weißen, gut betuchten Hotelgäste in der Sonne, ließen sich von den schwarzen, weiß livrierten Angestellten eiskalte Drinks servieren. Heute geht niemand mehr am Strand baden. „Direkt vor unserem Hotel werden die Abwässer der Stadt ins Meer geleitet. Vor ein paar Jahren wurde einer von uns von den Rohren eingesaugt und verschwand“, berichtet Gonçalves.
Am 16. Juli 1955 wurde das Grande Hotel in der ehemaligen portugiesischen Kolonie Mosambik mit viel Tamtam eröffnet. Rund 500 geladene Gäste in Smokings und Abendkleidern schlugen sich unter funkelnden Lüstern an weiß eingedeckten Tischen den Wanst voll, die Musik spielte, der Champagner floss. In einem Werbefilm wurde das gigantomanische Gebäude als „ein architektonisches Wunder in Form und Proportion“ angepriesen. „Ausgestattet mit modernstem Komfort. Auf seine Weise das größte Hotel Afrikas.“ Nachkolorierte Postkarten zeigen reiche Touristen und Geschäftsleute, coole Piloten und blondierte Stewardessen. In 110 Luxussuiten ließen sie sich verwöhnen. Die einzigen Schwarzen auf den Bildern sind devote Angestellte.
Die ehemals schneeweiße Fassade des im pompösen Art déco entworfenen Luxuspalastes ist zu einem schmutzig grauen, kariösen Betonskelett verkommen. Einige der Balkons sind abgestürzt, die Fenster sind nur noch blinde Löcher, aus Rissen im porösen Mauerwerk wuchern Bäume. Die Natur erobert sich den abgetrotzten Raum zurück, irgendwann werden die Wurzeln den Beton endgültig sprengen. Dort, wo einst Blumenbeete die 12 000 Quadratmeter große Anlage schmückten, wuseln jetzt Ratten zwischen leeren Gin-Flaschen, Plastiktüten, Lumpen und Kondomen. Auf den wenigen Quadratmetern, die nicht vermüllt sind, pflanzen die Bewohner Gemüse an.
Die Blütezeit des Hotels war kurz, das größenwahnsinnige Projekt war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Das teure Hotel war nur selten ausgebucht, die Bewohner der Industrie- und Hafenstadt Beira gaben dem Koloss bald den Spitznamen „Weißer Elefant“. Nur acht Jahre nach der pompösen Einweihungsfeier stellte das Hotel den regulären Betrieb ein. Der Verfall begann. Zunächst langsam, nachdem Portugal seine Kolonie 1975 verspätet und Hals über Kopf in die Freiheit entließ, immer schneller. „In den 60ern wurden in den begehbaren Kühlschränken im Keller politische Gefangene eingesperrt. Als der Bürgerkrieg ausbrach, wurden hier Soldaten untergebracht. Und nach der Silvesterparty 1980/81 kamen die ersten Leute, die sich hier vor den Kämpfen in Sicherheit bringen wollten“, erzählt Joao Gonçalves, als er die elegant geschwungene Treppen herabsteigt, die ins Foyer führt.
Modriges Wasser tropft durch die rissige Betondecke, sammelt sich in kleinen Pfützen, in denen Malaria-Mücken brüten. „Eigentlich sind wir alle arbeitslos, aber wer kann, versucht tagsüber in der Stadt irgendeine Arbeit zu finden“, erklärt Gonçalves die gespenstische Leere in der Eingangshalle. Auch nachdem der Bürgerkrieg, der rund 900 000 Menschenleben forderte, Millionen zu Flüchtlingen und Mosambik zum viertärmsten Land der Welt machte, 1992 nach 16 Jahren zu Ende ging, strömten weiter Tausende Menschen ins Grande Hotel. Den Flüchtlingen galt es als eine Chiffre für ein besseres Leben – oder zumindest als Station auf dem Weg dorthin. Für viele war es eine Endstation.
Anna da Gloria Jaime Rodrigues prachtvoller Name klingt wie ein Relikt aus den guten Tagen des Hotels. Doch sie bewohnt eine kleine Kellerkammer im Bauch des verrottenden Hotels. Sie teilt sich die paar Quadratmeter mit ihren drei Töchtern, ihrem Mann und ungezählten Kakerlaken. Auf einem Holzkohlegrill brät sie in ihrem rußgeschwärzten Gewölbe vier mickrige getrocknete Fische. Das spärliche Mittagessen für die gesamte Familie. Zwei schmutzige Matten und zwei löchrige Moskitonetze, ein paar Töpfe und Kerzen, ein gelber Kanister, einige Plastiktüten voll Klamotten und ein altes Nokia-Handy – das ist fast alles, was die 28-Jährige und ihre Familie besitzen. Seit zwölf Jahren lebt Anna in der Kammer, die eher wie ein Verließ als wie ein Hotelzimmer aussieht. „Das Schlimmste ist, dass du immer mitkriegst, was die Leute über und neben dir machen“, sagt Anna da Gloria Jaime Rodrigues. Im Grande Hotel leben Kinder, deren Großeltern schon in dem zum Flüchtlingslager degradierten Luxushotel ankamen. Die Bewohner der dritten Generation kennen keine Privatsphäre mehr. Doch Anna lebte einmal in einer echten Wohnung. Sie hatte das Pech, sich in einen der Bewohner des besetzten Hotels zu verlieben.
Dafür, dass im Grande Hotel Tausende Menschen unter schwer erträglichen Umständen zusammengepfercht sind, geht es relativ friedlich zu. Konflikte zwischen den Anhängern der verschiedenen Religionen gibt es in dem überwiegend von Muslimen bewohnten Gebäude nur selten. Darauf ist Joao Gonçalves stolz. „Kommt es zum Streit, versuchen wir die Angelegenheit vor unserem eigenen Schiedsgericht zu klären. Kommen wir dort zu keiner Einigung, müssen wir den Unruhestifter rausschmeißen oder die Polizei rufen“, sagt der Bürgermeister. Doch es kommt nur selten vor, dass jemand aus der Leidensgemeinschaft ausgeschlossen wird. Zwar würden die meisten Bewohner das ehemalige Luxushotel lieber heute als morgen verlassen, aber wo sollen sie hin – ohne Geld? Im Hotel zahlt man zumindest keine Miete.
Dafür gibt es auch kein fließendes Wasser. Die Bewohner müssen mit Kanistern Wasser aus einem Hahn vor dem monströsen Gebäude holen. 20 Liter kosten umgerechnet zwei Cent. Wer sich das nicht leisten kann, schöpft wie die zwölfjährige Noemia Wasser aus dem Hotelpool. Zwei nackte Jungen waschen sich in der trüben Brühe, in der sich Fische tummeln, denen scheinbar auch die Säure der ins Becken geworfenen Batterien nichts anhaben kann. Auf der mit Schlieren überzogenen Brühe treibt die Hülle einer Porno-DVD aus Nigeria.
„Als ich das Hotel das erste Mal sah, war es noch ein Prunkbau. Es ist eine Schande, was daraus geworden ist. Der Staat muss den Bewohnern würdige Unterkünfte zur Verfügung stellen“, sagt der 70-jährige Oscar Monteiro, der als Mitglied der Frelimo gegen die Portugiesen kämpfte und später mehrere Ministerposten bekleidete. Die meisten Hotelbesetzer haben solche Ankündigungen schon zu oft gehört, um ihnen noch Glauben zu schenken. Die meisten befürchten, dass sie im Grande Hotel sterben werden. Spätestens, wenn ihnen die Decke auf den Kopf fällt.