Was hat sich dieser Mann in den vergangenen zehn Jahren nicht alles anhören müssen! Ein Chamäleon sei er, hieß es, ein Opportunist, eine schwache Figur, gar ein Hofdiener der Staats- und Regierungschefs. José Manuel Barroso hat der EU seit seinem Amtsantritt am 18. November 2004 ein Gesicht gegeben – aber drückte er ihr auch einen Stempel auf? Am kommenden Freitag wird er sein Büro im 13. Stock des Brüsseler Berlaymonts räumen. „Ein Jahrzehnt voller Krisen“, wie er es selbst vor wenigen Tagen bei seinem letzten Auftritt vor dem Europäischen Parlament genannt hat.
Von Merkel durchgedrückt
Der heute 58-jährige Portugiese übernahm den Job, weil sich Frankreich und Deutschland nicht auf den damaligen belgischen Regierungschef Guy Verhofstadt oder den Briten Chris Patten einigen konnten. Es war Angela Merkel, damals bereits CDU-Chefin, aber noch nicht Kanzlerin, die ihn durchdrückte. Barroso übernahm eine EU, die nach dem Überschwang der größten Erweiterung ihrer Geschichte im Mai 2004 bis an die russische Grenze heranreichte.
In dieser Euphorie träumte Europa von einer eigenen Konstitution, die schon 2005 am klaren „Nein“ der Franzosen und Niederländer scheiterte. Zwei Jahre dauerte es, um die als Lissabonner Vertrag entschlackte Verfassung mehrheitsfähig zu machen. Barroso musste ausgleichen, immer neue Angriffe abwehren. Als er 2009 zum zweiten Mal gewählt wurde, stand die Union vor ihrer größten Herausforderung. „Die EU hat die Finanzkrise nicht verursacht. Sie ist Teil der Lösung“, sagte er jetzt in einem Interview zum Ende seiner Amtszeit. „Ich habe viel gelernt, und es gibt viele Dinge, die ich hätte anders machen können“, gestand er dabei auch ein. Aber er zeigte sich zugleich so unbelehrbar, wie man ihn oft erlebte: „Mit den uns zur Verfügung stehenden Informationen haben wir die richtigen Vorschläge gemacht.“
Dass die falschen griechischen Zahlen in Brüssel bekannt waren, dass man die erheblichen Risiken kennen konnte, die erst zur Bankenkrise und dann schließlich zur Staatsschuldenkrise führten, hätte Barroso wissen können. Es war seine Behörde, die jährlich immer wieder blaue Briefe an die maroden Staaten verschickt hatte, ohne dass sie je ein Umsteuern bewirkten. „Er hat das seriös und gut gemacht“, resümierte in der Vorwoche der Chef der christdemokratischen EVP-Mehrheitsfraktion im Europäischen Parlament, Manfred Weber (CSU). Und selbst Martin Schulz, der Präsident der Volksvertretung, sprach von einer „nicht immer leichten, aber im gemeinsamen Geiste getragenen Zusammenarbeit“.
Liberalisierung als Credo
Barroso stammt aus einer einfachen, mittelständischen Familie Portugals. Politisch aktiv wird der Jurastudent noch vor der Nelkenrevolution im Juni 1974, als sich sein Land von der Militärherrschaft abwendet. Zunächst schließt sich Barroso der maoistischen PCT-MRPP an, ehe er den Weg zu den liberalen Sozialdemokraten findet, die der konservativen Parteienfamilie angehört. Mit 36 Jahren avanciert er zum jüngsten Außenminister Europas, 2002 tritt er als Premierminister Portugals an dessen Spitze. 2004 wechselt der Vater von drei Kindern nach Brüssel in den Elfenbein-Turm der EU-Kommission. Dort wird die Liberalisierung sein Credo. Das beginnt bei den Roaming-Zuschlägen für Telefonate ins oder aus dem EU-Ausland. Und das geht weiter bei der Energie, der Landwirtschaft und prägt auch das Ende seiner Amtszeit, als er das Vorhaben verfolgt, die Wirtschaftsbeziehungen zu den USA, zu Kanada, zu Südkorea und Japan mit Freihandelsverträgen auszubauen. Doch zugleich lässt er zu, dass seine beiden Kommissionen sich durch immer neue Diktate zu einem Bürokratie-Monster entwickeln. Nach dem viel gelobten Klimaschutzgipfel vom März 2007 verlassen ihn politisches Fortune und das Gespür für die Befindlichkeit der Menschen. Er setzt ein radikales Glühbirnenverbot durch, verordnet selbst Luxuskarossen zunächst unerreichbar niedrige CO2-Grenzwerte.
Begeisterung für Europe
Wer Barroso wirklich beurteilen will, muss ihn erlebt haben. Zum Beispiel wenn der „kleine“ Mann sich von einem Stuhl erhebt, auf dem Weg zum Rednerpult sichtlich angespannt wirkt, um im nächsten Augenblick über sich hinauszuwachsen, weil er sich für die EU nämlich sehr wohl begeistern kann. „Europa muss der beste Platz zum Leben bleiben“, sagt er dann. Man tut ihm unrecht, wenn man ihn noch ein letztes Mal für alles verantwortlich macht, was die EU in den letzten Jahren nicht geschafft hat und was zu tun bleibt, wenn er geht. Barroso war zehn Jahre lang für die EU auch so etwas wie der Sündenbock qua Amt. Dass er auch diese Rolle am Freitag an seinen Nachfolger übergibt, wissen beide.