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„Einige unserer Werte sind durchaus gefährdet“
Detlef Drewes
Detlef Drewes
 |  aktualisiert: 22.05.2019 02:11 Uhr

Als EU-Wettbewerbskommissarin verschaffte sich Margrethe Vestager sogar bei den US-Internetriesen Respekt. Nun will die Liberale selbst Chefin der EU-Kommission werden. Die 51-Jährige gehört der sozialliberalen dänischen Partei „Det Radikale Venstre“ an. Die verheiratete Mutter von drei Töchtern kam 2014 nach Brüssel.

Frage: Frau Vestager, die liberale Parteienfamilie hat Sie sozusagen zur Frontfrau ihres Führungsteams gemacht. Was ist Ihr Ziel?

Margrethe Vestager: Ich will erreichen, dass Europa funktioniert. Wir brauchen nach der Wahl eine Koalition im Parlament mit starken Partnern. Und eine Volksvertretung, die zusammen mit der neuen Kommission genügend Führungskraft entfalten kann, weil die nächsten fünf Jahre wichtig, wenn nicht gar entscheidend werden.

Warum? Welche Themen stehen für Sie im Mittelpunkt?

Vestager: Für mich stehen der Klimaschutz und die industrielle Revolution durch die Digitalisierung ganz oben auf der Tagesordnung. Natürlich geht es in den kommenden Wochen auch um die Frage, wer welche Führungspositionen in der EU einnimmt. Aber noch wichtiger ist doch die Antwort auf die Frage, wohin wir als Gesellschaft gehen.

Warum wären Sie eine gute Kommissionspräsidentin?

Vestager: Es geht nicht um eine One-Man- oder One-Woman-Show. Die Volksvertreter und die Kommission müssen fünf Jahre gut zusammenarbeiten, weil es darum geht, unsere fundamentalen Werte sicherzustellen. Und einige davon sind durchaus gefährdet – ich verweise auf das Thema Rechtsstaatlichkeit, um nur ein Beispiel zu nennen.

Sie könnten die erste Frau an der Spitze der Europäischen Kommission werden. Welche Akzente werden Sie in den ersten hundert Tagen setzen?

Vestager: Es geht nicht nur um die Tatsache, dass ich als Frau dieses Amt übernehmen könnte, sondern um die Ausgewogenheit von Männern und Frauen im gesamten Kommissionsteam. Nicht eine oder zwei Frauen machen den Unterschied, sondern die Zusammensetzung der gesamten Mannschaft.

In der Flüchtlings- und Asylpolitik tritt die EU auf der Stelle. Wie wollen Sie zu Fortschritten kommen?

Vestager: Wir brauchen beides: eine Lösung für die Aufnahme von Menschen, die den Asylschutz brauchen. Aber wir brauchen auch Maßnahmen, um die illegale Zuwanderung zu stoppen. Das kann nur funktionieren, wenn die Mitgliedsstaaten untereinander solidarisch sind.

Wie wollen Sie denn die Regierungen von Italien, Ungarn oder Polen zur Solidarität bewegen?

Vestager: Die Regierungen müssen verstehen, dass die europäischen Bürger eine Lösung wollen. Natürlich kann man niemanden zwingen, einer Lösung zuzustimmen, die das Volk nicht will. Aber ich denke schon, dass man den Wählern klarmachen kann, dass Solidarität notwendig, ja unverzichtbar ist und dass es deshalb auch die Bereitschaft braucht, eine solche Herausforderung gemeinsam anzugehen und dass jedes Land seinen Teil der Verantwortung übernimmt.

Sie waren bisher für den Wettbewerb der EU verantwortlich – und haben sich Vorwürfe eingehandelt, weil Ihre Entscheidungen Fusionen wie bei Siemens und Alstom unmöglich gemacht haben. Wie sehen Sie die Zukunft der europäischen Industrie auf dem Weltmarkt? Brauchen wir keine europäischen Champions?

Vestager: Es gibt eine große Zahl europäischer Champions, aber unsere Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass die gesamte Wirtschaft funktioniert und widerstandsfähig ist. Zu den Stärken der Wirtschaft gehört, dass wir einen sehr kraftvollen Mittelstand haben. Hinzu kommt ein falsches Bild: Da wird beispielsweise von der deutschen Autoindustrie gesprochen, tatsächlich handelt es sich aber längst um eine europäische Branche. Das bringt eine hohe Flexibilität, weil man viele Subunternehmer und Zulieferer hat. Diese Struktur schafft und sichert Arbeitsplätze. Wir haben noch nie so viele Europäer mit einem Job gehabt wie derzeit.

Trotzdem hat man Ihnen vorgeworfen, mit den bisherigen europäischen Wettbewerbsregeln nicht auf die wachsende chinesische Konkurrenz auf dem Weltmarkt eingehen zu können. Müssen diese Regeln nicht geändert werden?

Vestager: Wir brauchen neue Regeln, darüber reden wir schon länger, gerade weil sich die Bedingungen durch neue Herausforderungen wie die Digitalisierung ändern. Denn neue Wirtschafts- und Geschäftsformen erfordern auch geänderte Regeln. Aber wir können und wollen nicht unsere Rahmenbedingungen für eine faire Konkurrenz aufgeben. Der Vorwurf, dass wir Wettbewerbsentscheidungen nur mit Blick auf den europäischen Markt getroffen haben, ist falsch. Wir hatten immer auch die Situationen auf dem Weltmarkt im Auge. Und das müssen wir sicherlich künftig noch mehr tun.

 
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