Lärm liegt in der Luft, ein Gemenge aus zig Gesprächen, dem Klick-Klack von Bällen auf der Tischtennisplatte und lauten Rufen am Kicker, wo die Afghanen spielen. Es ist Montagabend, wöchentliches Treffen der Asylbewerber im Heimcafé der Gemeinschaftsunterkunft Würzburg (GU). Die Tische sind komplett belegt, ein paar Kinder laufen herum, Helferinnen schneiden Obst, machen Witze mit den Flüchtlingen oder helfen bei Papierkram. Vorne gibt es gleich die wöchentliche Verlosung, meist Rucksäcke und Bustickets, die mit viel Applaus verteilt werden. Eine Helferin sitzt am Rand und sagt: „Wenn man die Flüchtlinge so sieht, könnte man glauben, sie wären glücklich.“
Die Idee ist im Grunde einfach. Wir wollen einen Asylbewerber über eine längere Zeit begleiten, geplant sind ein oder zwei Monate. In dieser Zeit wollen wir dokumentieren, was ein Flüchtling tun muss, um Asyl zu erhalten, wollen seine Geschichte erzählen und einen Einblick in den Alltag bekommen. Nach der ersten Stunde im Heimcafé aber wird klar, dass das Unterfangen nicht leicht wird. Ein Hindernis: die Sprache. Die meisten Flüchtlinge können sich nicht genügend verständigen, um eine solche Geschichte möglich zu machen. Weiteres Problem: die Geschichte selbst. Denn die Asylbewerber, die genug Deutsch können, erzählen zwar gern von ihrer Situation. Wenn es aber um eine langfristige Geschichte geht, ist das Gespräch schnell zu Ende. Eine persönliche Reportage möchten sie nicht.
Eyerusalem fällt nicht sofort auf im Durcheinander des Montagstreffens. Sie sitzt irgendwo an einem der Tische und redet mit einer der Helferinnen, auf Deutsch. Und zufällig sprechen sie über Aufgaben des Journalismus. Vielleicht ist es das, was sie eine Viertelstunde später dazu bewegt, Ja zu sagen. „Die anderen haben Angst“, erklärt sie. „Sie haben schlechte Erfahrungen mit Presse gemacht. Ich habe auch Angst. Aber das ist egal.“ Sie ist bereit, die Geschichte zu machen.
Eyerusalem, 25 Jahre, kommt aus Äthiopien und gehört damit zu einer der größten Gruppen in der GU, neben Afghanen und Iranern. Zu jedem Treffen kommt ein großer Pulk von Äthiopiern, vor allem junge Frauen, aber Eyerusalem hebt sich ein bisschen ab. Während sich die meisten der Äthiopier nur wenig verständigen können, spricht sie gutes Deutsch und außerdem sehr gutes Englisch. In Äthiopien hat sie Wirtschaftswissenschaften studiert. Sie ist dort aufgewachsen, aber Eyerusalem sagt nie: „Ich bin Äthiopierin.“ Sie sagt: „Ich komme aus Äthiopien.“ Ein kleiner, bedeutsamer Unterschied.
Äthiopien, Addis Abeba
Addis Abeba, die Hauptstadt von Äthiopien. Hier, im Zentrum des Landes, auf fast 3000 Metern Höhe, wächst Eyerusalem auf. Ihre Familie ist äthiopisch-orthodox, vom Volk der Oromo. Sie gehen jeden Sonntag in die Kirche, in weißer Kleidung. Die Oromo sind die größte Volksgruppe in einem Land, das zersplittert ist in unzählige Gruppierungen, die noch einmal zersplittert sind in verschiedenste religiöse Gruppen. Viele Völker, wenig Gemeinsamkeiten. Konflikte ergeben sich mit fast zwingender Logik.
Von Anfang an ist sich Eyerusalem bewusst, Oromo zu sein. Hier liegen die Wurzeln für ihre Flucht nach Deutschland, lange bevor sie ahnt, dass sie einmal fliehen wird. Die Politik ist allgegenwärtig in ihrem Leben. Denn Eyerusalems Vater ist bei der OLF (Oromo Liberation Front), einer militanten Gruppe, die für einen unabhängigen Staat der Oromo kämpft. Die äthiopische Regierung schreibt, die OLF sei eine terroristische Organisation. Die OLF schreibt, die Regierung sei eine brutale Diktatur. In der Öffentlichkeit spricht Eyerusalem Amharisch, geht zur Schule, ist konform und fleißig, aber zu Hause herrscht eine andere Welt: Dort spricht sie Oromo, und dort erzählen der Vater und der ältere Bruder von den Kämpfen.
Dann, Eyerusalem ist 13 Jahre alt, gerät die Welt aus dem Gleichgewicht: Ihr Vater stirbt in einem Kampf. Jetzt ist die Politik zum ersten Mal ganz nah, unheimlich nah. „Durch meine Familie habe ich politische Gefühle bekommen“, sagt Eyerusalem. Einige Zeit später muss der Bruder, von der Regierung verfolgt, fliehen. Er kann sich nach Europa retten und hat mittlerweile eine Aufenthaltsgenehmigung. Eyerusalem bleibt mit ihrer Mutter zurück. Noch führt sie ein normales Studentenleben: Sie geht zur Uni, liest viel, geht mit ihren Freundinnen jeden Tag schwimmen. Aber sie fühlt, dass sie nicht dauerhaft schweigen kann.
An der Universität von Addis Abeba kommt die Master-Studentin Eyerusalem mit einem Kommilitonen ins Gespräch. Er arbeitet für die OLF, und er stellt sie auf die Probe. „Er hat mich gefragt: Bist du eine richtige Oromo oder bist du es nicht?“ Eyerusalem zögert nicht. Sie geht mit dem Kommilitonen zu einem Treffen, bei dem sich Helfer der OLF organisieren, vielleicht acht oder neun Leute. Sie sind keine richtigen Mitglieder der Gruppe, sondern arbeiten als Mittelsleute, die durch die Dörfer ziehen, Spenden sammeln und davon Essen und Medikamente kaufen. Eyerusalem übernimmt Aufgaben, sammelt Geld und bringt die Verpflegung zu den OLF-Kämpfern. „Ich hatte nie direkten Kontakt zu Leuten von der Partei“, sagt sie. „Wir haben nur die Truppen versorgt.“
Sie glaubt daran, dass die Unabhängigkeit möglich ist. „Die Regierung unterdrückt uns, aber wir sind viele“, sagt Eyerusalem. „Wir haben eine eigene Sprache und eine eigene Kultur. Wir brauchen ein eigenes Land, wir brauchen einen eigenen Präsidenten.“ Strukturen und Mitglieder der Gruppe sind geheim, sogar die Helfer erfahren nichts davon. „Damit wir unter Folter nichts sagen können“, erklärt Eyerusalem. Denn Aktivitäten für die OLF sind gefährlich, selbst, wenn es nur das Sammeln von Spenden ist.
Sommer 2010, in Gefangenschaft
Sie sitzen bei einem Treffen im Park, als plötzlich Fremde auftauchen. Es ist das, was die OLF-Helfer am meisten fürchten. Sie haben versucht, der Aufmerksamkeit der Regierung zu entgehen, indem sie sich immer an anderen Orten treffen und meist im Freien, nur selten an der Uni. Aber jetzt ist klar, dass sie irgendjemand verraten haben muss. Eyerusalem weiß nicht, wer. Die Regierungsleute umstellen die Gruppe, es gibt keine Chance, zu entkommen. Dann nehmen sie sie gefangen. Es ist keine offizielle Verhaftung: Eyerusalem sieht keinen Richter und hat keinen Anwalt, sie kommt auch nicht in ein offizielles Gefängnis. Gemeinsam mit den anderen Frauen wird sie in einen düsteren Raum gesperrt.
Wissen die Gefangenen etwas über die OLF? Kennen sie Namen? Die Truppen scheinen das zu glauben. Eines Tages führen sie Eyerusalem in eine Einzelzelle. „Ich saß dort und habe den ganzen Tag nichts zu essen bekommen. Dann, am nächsten Tag, habe ich ein bisschen Brot und Wasser bekommen. Ich sollte ihnen Dinge verraten. Ich sollte Namen sagen, sie haben mich verprügelt, damit ich rede. Aber ich konnte nichts sagen, denn ich wusste ja nichts.“ 20 Tage ist sie in Haft. Durch die Schläge und den Hunger geht es ihr immer schlechter. Dann erlauben ihr die Wachen, in ein Krankenhaus zu gehen. Dort gelingt es ihr, Kontakt zu einem Onkel aufzunehmen. „Er hat die Ärzte bestochen, damit sie mich gehen lassen. Dann hat er mich versteckt.“
Sommer 2010, auf der Flucht
Der Onkel bringt sie in einem abgelegenen Dorf unter, irgendwo draußen auf dem Land. Hier leben nur Oromo. Gemeinsam mit vier anderen Flüchtlingen lebt sie dort. Sie warten. „Ich musste alles hinter mir lassen“, erzählt Eyerusalem. Sie hat Angst vor dem Staat, Angst vor der Polizei: „Sie töten einen sofort.“ Die Zukunft als Studentin, das Leben in Äthiopien: Jetzt ist alles weg.
Irgendwann taucht ein Mann in dem Dorf auf, den Eyerusalems Onkel geholt hat. Er sei gekommen, um ihnen außer Landes zu helfen, sagt er. Der Fremde organisiert Flugtickets und Papiere. Eyerusalems Flug ist für Anfang August gebucht und geht nach Frankfurt, Deutschland. Sie kann kein Wort Deutsch und hat keine Ahnung von dem Land, in das sie fliegen soll. Aber sie hat keine Wahl. Auch die anderen Flüchtlinge bekommen Tickets – wohin, weiß sie nicht. Der Mann begleitet Eyerusalem zum Flughafen und fliegt mit ihr gemeinsam nach Frankfurt. Im August 2010 kommt Eyerusalem dort an, um irgendwo in Deutschland, sie weiß nicht wo, einen Asylantrag zu stellen. Sie wird in diesem Jahr eine von 53 000 Antragstellern sein.
Die Bedingungen
53 000 Leute, die im Jahr 2011 einen Asylantrag gestellt haben, die meisten aus Afghanistan, dem Irak und Serbien. Es ist wenig im Vergleich zu den Zahlen bis in die 2000er Jahre, aber viel im Vergleich zu den Zahlen der letzten Jahre: 2008 waren es nur 28 000.
Über lange Zeit, seit den 70er Jahren, stieg die Zahl der Asylbewerber kontinuierlich an. Im Jahr 1992 lag die Zahl der Bewerber, auch bedingt durch die Umbrüche um 1990, auf einem Rekordhoch von über 400 000 Menschen in einem Jahr. Im folgenden Jahr beschlossen CDU, SPD und FDP eine Gesetzänderung: Wer über einen sogenannten „sicheren Drittstaat“ einreist, also einen Staat, von dem man glaubt, dass die Menschenrechte dort gewahrt werden, wird nicht mehr als asylberechtigt anerkannt. Weil Deutschland von sicheren Drittstaaten umgeben ist, ist es seitdem faktisch unmöglich, auf dem Landweg einzureisen.
Offizielle Begründung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF): Das Gesetz sei nötig, damit „Asylmissbrauch verhindert“ und Asylrecht „nur noch für wirklich politisch verfolgte Ausländer“ gelte. Doch die Änderung kam wohl nicht ganz zufällig, nachdem es in den vorherigen Jahren rassistische Ausschreitungen und ausländerfeindlichen Druck aus der Bevölkerung gegeben hatte. Die Zahl der Asylbewerber sank plötzlich rasant.
2004 wurde zudem die „befristete Aufenthaltsbefugnis“ eingeführt: Wer Asylrecht erhält, bekommt es nicht mehr lebenslang, sondern nur noch für drei Jahre, anschließend wird der Fall noch einmal geprüft.
Vor der Anerkennung als Asylberechtigte steht für Eyerusalem jetzt eine Liste von Bedingungen: Sie muss vom Staat verfolgt werden (nicht staatliche Verfolgung gilt nicht als Grund), sie muss aus politischen Gründen verfolgt werden (Armut, Krieg oder Naturkatastrophen werden nicht akzeptiert), sie muss auf direktem Weg nach Deutschland gekommen sein, sie darf sich nicht kriminell betätigt haben, sie muss ihre Verfolgung belegen und muss Verletzungen gegen die Menschenwürde erlitten haben.
„Europa und Deutschland machen immer mehr dicht“, sagt Eva Peterle, die sich seit Jahren ehrenamtlich um die Flüchtlinge in der GU Würzburg kümmert. „Die Fremdenangst wird instrumentalisiert. Bundesamt und Verwaltungsgerichte suchen immer als Erstes Gründe, warum sie jemanden ablehnen könnten. Ich sehe keine Zeichen für Hoffnung.“ Das aktuelle System nennt sie „eine Pervertierung des Rechtsgedankens“.
Enrico Mantay, Pressesprecher beim BAMF, hält dagegen: „Wir entscheiden im Zweifelsfall immer für den Flüchtling. Und wenn Deutschland sich immer mehr abschotten wollte, hätte es ja in den letzten Jahren zusätzliche Verschärfungen der Gesetze gegeben. Aber die gab es nicht.“ Die Gesetzesänderungen früherer Jahre hätten keinen Einfluss auf die Bewerberzahl gehabt, mit Ausnahme des Drittstaatengesetzes. „Das hatte einen Effekt.“
Doch nachdem die Bewerberzahlen fast zwanzig Jahre lang gesunken sind, steigen sie seit zwei Jahren wieder deutlich. Der neue Zuwachs stellt die 22 Erstaufnahmestellen in Deutschland vor ernste Probleme. „Es wird händeringend nach Unterkünften gesucht“, so Mantay. In Bayern gibt es bislang zwei Erstaufnahmestellen. Die eine ist in München, aber die wichtigere, die Zentrale Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber (ZEA), befindet sich in Zirndorf, einer 25 000-Einwohner-Stadt bei Nürnberg.
August 2010, Erstaufnahmestelle Zirndorf
Eyerusalem steht am Tor der Erstaufnahmestelle und schaut zurück. Ihr Fluchthelfer steht in einiger Entfernung. Er hat sie in Frankfurt abgeholt und bis Zirndorf begleitet, hat für sie nach der Erstaufnahmestelle gefragt, hat die Zugfahrt organisiert. Der erste Helfer ist schon in Frankfurt zurück nach Äthiopien geflogen. Jetzt ist Eyerusalem allein. Sie wendet sich ab und geht zum Security-Posten. Die Wachposten fragen nach ihrem Namen und leiten sie dann weiter zur Polizeistation der Anlage, wo die Neuankömmlinge durchsucht werden.
In einem kleinen Raum checken die Beamten ihre Kleidung durch, prüfen, ob sie Gegenstände dabei hat, alles ohne Komplikationen. Dann wieder zurück zur Security: Die Beamten geben Eyerusalem Bettwäsche, einen Teller und Besteck und zeigen ihr das Zimmer, wo sie die Übergangszeit in der Aufnahmestelle verbringen wird. Vier Betten stehen in dem Raum, außerdem vier Stühle und ein Kühlschrank an der Wand. Das war's. Als Eyerusalem ihre Mitbewohner kennenlernt, ist sie freudig überrascht: Alle drei sind Äthiopier.
Drei Tage lang geschieht nicht viel. Die vier gehen zum Essen in einen Essensraum, am Wochenende gibt es Esspakete, ansonsten redet man. Dann, am dritten Tag, das erste Gespräch. Insgesamt drei Mal hat ein Flüchtling in seiner Zeit in der Erstaufnahmestelle ein Gespräch, wo es vor allem darum geht, glaubhaft die eigene Verfolgung zu schildern, außerdem von politischen Aktivitäten und Problemen bei einer Rückkehr ins Heimatland zu berichten.
In dem Raum, in den Eyerusalem kommt, warten zwei Leute: Ein Fragesteller vom BAMF und ein Übersetzer. Über eine Stunde befragen sie Eyerusalem, erst zu ihrer Person, dann zu ihrer Geschichte und Situation im Heimatland. „Die Leute waren nett“, sagt sie. „Sie haben einfach neutral Fragen gestellt.“ Sorgen hat sie keine. „Ich habe einfach die Wahrheit gesagt.“ Ein paar Tage später gibt es ein zweites Gespräch, bei dem Eyerusalem gemeinsam mit dem Experten ein Formular ausfüllt, ähnliche Fragen.
Warum sie hier ist, wie sie hergekommen ist. Was sie in ihrer Heimat macht. Ob sie Familie hat, welcher ethnischen Gruppe sie angehört. Ob sie sich politisch engagiert hat. „Immer wieder Politik“, sagt Eyerusalem. „Sie wollten alles über die politische Situation wissen.“ Über ihre Chancen als Asylbewerberin sagt der Experte nichts. Und auch das Wort „Asylantrag“ fällt kein einziges Mal.
Zwei Wochen vergehen, dann gibt es ein drittes Gespräch. Diesmal muss Eyerusalem ihren Antrag stellen. Sie ist damit offiziell Asylbewerberin und kann aus der Erstaufnahmeeinrichtung in eine Gemeinschaftsunterkunft ausziehen. Wohin, entscheidet das BAMF. Man sagt ihr, sie werde nach Würzburg gehen, und sie bekommt eine vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung, die bis zur Anhörung gültig ist. Frei bewegen kann sich Eyerusalem damit nicht: Laut BAMF darf ein Asylbewerber den Landkreis nicht verlassen, bis die Anhörung stattgefunden hat.
Herbst 2010, Ankunft in der GU Würzburg
Ein altes Kasernengelände, ein mit Maschendraht umzäunter Steinhof, darum herum mehrere Gebäude, umgeben von hohen Zäunen mit Stacheldraht: Das ist die GU Würzburg, die neue Heimat von Eyerusalem. 450 Asylbewerber leben aktuell hier. Als Eyerusalem ankommt, bekommt sie ein Einzelzimmer im Frauenhaus samt Möbeln und persönlichen Dingen der Vorbewohnerin. Das Zimmer ist schön eingerichtet: Es gibt einen Schreibtisch mit Stuhl, einen Schrank, einen Fernseher, ein Sofa und viele kleine Gegenstände, äthiopische Figuren zum Beispiel oder kleine Stofftiere, außerdem eine Reihe äthiopischer Heiligenbildchen. Die meisten anderen Flüchtlinge aber leben in düsteren Gemeinschaftszimmern, teilweise zu sechs oder sieben Leuten. Eyerusalem spürt schnell die Unzufriedenheit in der GU.
Ihr Zimmer ist voll mit religiösen Symbolen. Der ständige Geruch von Weihrauch liegt in der Luft, den sie für Kaffee-Zeremonien verwendet. Eyerusalem fastet sieben Mal im Jahr und geht regelmäßig in die äthiopisch-orthodoxe Gemeinde in der Nähe. Ihre Tradition, ihre Religion, sind immer greifbar, wie eine schützende Erinnerung an die Vergangenheit. Aber Äthiopien ist weit weg von der GU. Als Eyerusalem ankommt, will sie das neue Land kennenlernen, Deutsche treffen, sich integrieren. Aber es gibt nicht viele Möglichkeiten.
2010/2011, Leben in der GU
40 Euro bekommen die Asylbewerber pro Monat zur freien Verfügung. In der ersten Zeit hat Eyerusalem den Plan, die Innenstadt von Würzburg kennenzulernen. Aber ein Tagesticket, stellt sie fest, kostet 4,85 Euro. „Das können wir uns nicht leisten“, sagt sie. „Ich kann nicht in die Stadt fahren. Stell dir vor: Du bist in einem fremden Land, du kannst die Sprache nicht, du bist weit ab von der Stadt und hast keine Ahnung, was in dem Land passiert. Du willst Deutsche kennenlernen, aber du kannst nicht. Du sitzt in der GU, wo es keine Freude gibt. Du hast Angst, du verstehst die Sprache nicht, du hast keinerlei Information von außen.“
Eyerusalem bekommt Magenprobleme vom Stress. Helfer von der Missionsärztlichen Klinik bringen sie ins Krankenhaus. „Das war so nett“, sagt sie. „Diese Leute kümmern sich um uns. Ich bewundere die Helfer sehr, sie sind gute Leute.“ Die Asylbewerber, sagt sie, seien viel auf solche freiwilligen Helfer angewiesen. Um besser in Deutschland zurechtzukommen, möchte Eyerusalem nach ihrer Ankunft in der GU einen Deutschkurs belegen. Aber der Staat bietet keine Deutschkurse für Asylbewerber an; und einen regulären Kurs kann sie nicht bezahlen. Die einzige Möglichkeit: Zwei Mal die Woche kommen Freiwillige in die GU und geben eine Stunde Unterricht.
Eyerusalem geht hin und lernt engagiert. Aber der Kurs kommt kaum voran. „Es kommen ständig neue Leute in der GU an“, erzählt sie. „Und jedes Mal, wenn Neue kommen, müssen wir von vorne anfangen.“ Sie nimmt Deutschbücher mit in ihr Zimmer und lernt, sie läuft zu Fuß zum Hauptbahnhof, um die Stadt kennenzulernen. Eyerusalem entwickelt Kontakt nach draußen, lernt deutsche Freundinnen kennen. „Im Gespräch mit Deutschen“, sagt sie, „habe ich die Sprache gelernt.“
Aber die meisten verfügen nicht über solche Kontakte. Wenn sie arbeiten dürften, glaubt Eyerusalem, könnten die Flüchtlinge sich besser integrieren. Doch die Asylbewerber haben im ersten Jahr Arbeitsverbot. Auch danach bekommen sie nur im Ausnahmefall eine Arbeitserlaubnis. „Bevor die Flüchtlinge anerkannt sind, haben sie ja nur vorübergehenden Schutz“, sagt Enrico Mantay. „Arbeit soll, vermute ich, kein Pull-Faktor werden.“ Eyerusalem sagt: „Wenn wir arbeiten dürften, und wenn es nur halbtags wäre, könnten wir unsere Angst vergessen. Wir könnten uns vom Asylverfahren ablenken und hätten das Gefühl, etwas Sinnvolles zu machen.“ So gibt es für sie nichts als Warten.
26. März 2012, Heimcafé der GU Würzburg
An der Pinnwand im Heimcafé hängt ein Werbeflyer: Rückkehrberatung. Die Botschaft könnte kaum deutlicher sein. Im Jahr 2010 wurden in Bayern 0,5 Prozent der Bewerber als Asylberechtigte anerkannt. 54 Prozent der Anträge wurden abgelehnt. Die zweitgrößte Kategorie mit 21 Prozent: anderweitig erledigt, etwa durch Rücknahme des Asylantrages.
Eyerusalem sitzt an einem der Tische, inmitten der Gruppe aus Äthiopiern. Die einzelnen Ländercliquen mischen sich nicht, man bleibt unter sich. Stress und Angst, sagt Eyerusalem, seien die ständigen Emotionen bei Flüchtlingen. Sie sind sorgfältig verborgen bei den Treffen im Heimcafé, aber nur knapp unter der Oberfläche. Wer häufiger in die GU kommt, wird schnell bei allen möglichen Problemen angesprochen. Ein afghanischer Vater hat eine Aufenthaltserlaubnis bekommen und darf ausziehen, weiß aber nicht, wie er an eine Wohnung für seine siebenköpfige Familie kommen soll. Das Formular, das man ihm gegeben hat, ist nur auf Deutsch. Er versteht es nicht und weiß nicht, wer ihm helfen könnte.
Ein irakischer Schriftsteller hat irgendetwas mit seinen Büchern vor und versucht, sich verständlich zu machen, aber niemand kann Kurdisch und keiner der Kurden kann übersetzen. Irgendwo in der GU, heißt es, wohnt jemand, der Persisch und Kurdisch kann, dann könne er einer Perserin übersetzen, damit sie dann für die Deutschen übersetzen kann, damit die ihm vielleicht helfen können. Eine iranische Schauspielerin wartet nervös auf ihre entscheidende Anhörung. Was sie machen soll, wenn sie bleiben darf, weiß sie nicht: Sie spricht gutes Deutsch, aber an einem Theater rechnet sie sich mit ihrem Akzent wenig Chancen aus.
Regelmäßig kursieren Nachrichten über Selbstmordversuche in der GU. Was daran ist, wissen oft auch die Helfer nicht. „Man sieht teilweise drei, vier Mal die Woche einen Krankenwagen im Hof“, sagt Eyerusalem. „Auch wegen Krankheiten und Prügeleien. Die Leute haben einfach Stress.“ Verstärkt werde das durch die kulturellen Unterschiede. „Wenn die Leute inneren Frieden haben und es ihnen gut geht, können sie sich kontrollieren, aber in so einer Angstsituation ist es für viele nicht möglich.“
April bis Mai 2012, Leben und Warten in der GU
Eyerusalem versucht, dem Stress zu trotzen. Sie ist ehrgeizig und fleißig, und sie bastelt daran, dass ihr Leben weitergeht, wo auch immer. Ihr Zimmer ist voll mit Deutschbüchern und sie verbringt die meiste Zeit des Tages mit Lernen. „Lernen ist das wichtigste Ziel in meinem Leben“, sagt sie. Jung, gebildet, mit guten Sprachkenntnissen, stehen ihre Chancen besser als die manch anderen Flüchtlings. Die Einstellungen sind unterschiedlich. Die einen kämpfen für einen Job, ein Studium oder einen anderen großen Traum. Andere hängen mit den Gedanken in der Vergangenheit. Und alle warten.
Es ist ein Montagabend im Mai, eines der letzten Treffen mit Eyerusalem. Im Heimcafé herrscht der übliche Tumult. Es sind immer die gleichen Leute, die hier auftauchen – einen Großteil der Asylbewerber bekommen die Helfer nie zu Gesicht. Die gleichen Themen auch, in immer neuen Variationen. Eine iranische Mutter sucht jemanden, der mit ihrem Sohn Deutsch sprechen kann. Eine der Helferinnen erzählt von mehreren Äthiopierinnen, die keine Arbeitsgenehmigung bekamen, angeblich mit dem Argument: „Ihr arbeitet für sechs Euro, das ist zu billig. Die Arbeit sollen besser Deutsche machen.“ Ein Gerücht, mehr nicht.
Die iranische Schauspielerin hatte mittlerweile ihre Anhörung. Sie findet, dass es eigentlich ganz gut gelaufen ist, aber sicher ist sie nicht. Sie wartet noch auf die Antwort. Eyerusalem hat keine Ahnung, wie gut oder schlecht ihre Chancen stehen, bleiben zu dürfen. Die Unsicherheit, sagt sie, sei das Schlimmste. „In deinem eigenen Land kannst du, wenn du dich nicht politisch engagierst, arbeiten und tun, was du willst. Hier hast du immer Sorgen. Du vermisst deine Familie, deine Freunde, alles.“ Seit sie aus Äthiopien geflohen ist, hat sie nichts mehr von ihrer Familie gehört.
Sie weiß nicht, ob sie sie wiedersehen wird. „Die äthiopische Regierung ist seit 21 Jahren an der Macht. Niemand weiß, wann sie abtritt.“ Sie kann nicht auf Äthiopien hoffen, also ruht ihre Hoffnung auf Deutschland. „Ich wünsche mir, dass sie eine positive Entscheidung treffen, damit ich bleiben darf.“ Flüchtling ist, wenn die Zukunft weg ist. Aber Eyerusalem hat die Chance, sie sich wieder zu holen.