Die Hälfte der Bevölkerung ist auf der Flucht. Fünf Millionen im Land haben kein festes Dach mehr über dem Kopf. 5,6 Millionen Syrer brachten sich jenseits der Landesgrenzen in Sicherheit, die meisten in den Nachbarstaaten, viele auch in Europa. Am Donnerstag kommen nun in Brüssel auf Einladung von EU und Vereinten Nationen zum dritten Mal Minister und Repräsentanten von über 85 Nationen und Organisationen zu einer Syrien-Geberkonferenz zusammen. Im letzten Jahr sagten sie 6,2 Milliarden Dollar zu, diesmal hoffen die Organisatoren auf eine Summe von zehn Milliarden.
Die dramatischsten Nachrichten kommen derzeit aus dem Osten Syriens. Mehr als 3000 IS-Kämpfer kapitulierten in den vergangenen drei Tagen und verließen ihre letzte Bastion Baghouz am Euphrat. Das Ende des „Islamischen Kalifates“ auf syrischem Territorium ist nur noch eine Frage von Tagen. Trotzdem ist die Gefahr durch den „Islamischen Staat“ keineswegs gebannt, warnte kürzlich US-General Joseph Votel, Chef der in Syrien und Irak eingesetzten US-Spezialkräfte. Die meisten IS-Anhänger, die derzeit aus dem Kampfgebiet evakuiert würden, seien „verstockt und radikalisiert“, erklärte der 61-Jährige.
Derweil kommt der Wiederaufbau des zerstörten Landes nur sehr langsam voran. Ein Drittel aller Wohnungen sowie die Hälfte aller Schulen, Universitäten und Krankenhäuser sind beschädigt oder zerstört. Die Weltbank schätzt die Kosten auf mindestens 320 Milliarden Euro. Doch weder Damaskus noch seine Verbündeten Russland und Iran können den Wiederaufbau alleine schultern.
Europa bringt dies in ein Dilemma. Findet sich Brüssel mit dem Despoten Bashar al-Assad ab und lässt die Hilfsgelder fließen, werden dennoch viele der rund eine Million Syrer, die in der Europäischen Union Zuflucht gefunden haben, aus Angst vor ihrem Regime nicht zurückkehren. Blockieren die Europäer jedoch die Aufbau-Milliarden bis ein „glaubwürdiger Übergang weg von Bashar al-Assad“ stattfindet, werden große Teile Syriens noch auf Jahre und Jahrzehnte unbewohnbar bleiben.
Die Befürworter dieser harten Linie berufen sich vor allem auf die Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrates vom Dezember 2015, welche einen „politischen Übergang“ in Syrien fordert, ohne allerdings genau zu definieren, ob damit perspektivisch ein Rücktritt Assads oder lediglich bestimmte innere Reformen des Systems gemeint sind.
An einen schrittweisen Machtverzicht Assads jedoch ist heute, drei Jahre nach dem UN-Beschluss, nicht mehr zu denken. Der Diktator ist eindeutiger Sieger auf dem Schlachtfeld, mit ein Grund, warum die strikte Anti-Assad-Front in Europa zu bröckeln beginnt. Vor allem süd- und osteuropäische Staaten plädieren für eine pragmatischere Linie, weil ihre Regierungen das Thema stärker durch die Linse der Asylpolitik betrachten. Wortführer ist die populistische Regierung Italiens, die eine Kooperation mit Damaskus für unabdingbar hält, bei der Flüchtlingskrise genauso wie bei der Fahndung nach IS-Terroristen.
Auf der gleichen Linie liegen Polen, Österreich und Ungarn. Polens Vize-Außenminister Andrzej Papierz durchbrach als erster EU-Politiker die europäische Kontaktsperre und reiste im vergangenen August nach Damaskus. Dort versprach er den Bau von hundert Wohnungen für Flüchtlingsfamilien, die gegenwärtig noch im Libanon leben. Sein syrischer Amtskollege Faisal Mekdad nannte Polens Haltung damals „realistisch und rational“ und kritisierte alle, die „die Hilfe an andere Faktoren knüpfen wollen“.