Jeder vierte Mensch in Deutschland stirbt an Krebs. Im Jahr 2010 führten die Folgen der Erkrankung bei 218 889 Menschen zum Tod. Diese Zahlen gab das Statistische Bundesamt in Wiesbaden erst vor wenigen Tagen bekannt. Damit ist Krebs nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen unverändert die zweithäufigste Todesursache. Viele Menschen hoffen deshalb auf Durchbrüche in der medizinischen Forschung, letztlich insgeheim auf ein Wundermittel, das der Diagnose Krebs künftig den Schrecken nimmt. Gegen eine Krebsart existiert bereits ein wirksamer Schutz – durch eine Impfung. Aber die wenigsten nutzen die Möglichkeit der Vorbeugung vor Gebärmutterhalskrebs (Zervixkarzinom). Er gehört neben Brustkrebs zur zweithäufigsten Todesursache bei Frauen.
Das Desinteresse an dieser Impfung gegen Krebs erstaunt nicht nur Experten wie den medizinischen Mikrobiologen und Infektionsepidemiologen aus Würzburg, Professor Dr. Tino F. Schwarz. Der Chef des Zentrallabors im Juliusspital-Krankenhaus bezeichnet sie als „Meilenstein in der Geschichte der Krebsforschung“ und fügt ein wenig resigniert hinzu: „In Deutschland ist jedoch etwas gründlich schiefgelaufen“ – und meint die fehlgelaufenen Strategien, zwei Impfstoffe an die Zielgruppe zu bringen.
Die beiden Impfstoffe sind seit 2006/2007 in Deutschland auf dem Markt. Sie schützen vor gefährlichen Vorstufen, aus denen sich Gebärmutterhalskrebs entwickeln kann. Die jüngst in renommierten Fachblättern wie „The Lancet Oncology“ veröffentlichten Endergebnisse der Studie, deren Mitautor Professor Schwarz ist, beschreiben sogar einen nahezu vollständigen Schutz vor tumorauslösenden humanen Papillomviren (HPV). Das heißt: Wenn sich Mädchen und junge Frauen gegen HPV-Infektionen impfen lassen würden, schützen sie sich faktisch vor Krebs.
Doch sie tun es nicht. „Noch immer erkranken jedes Jahr rund 7500 Frauen an Gebärmutterhalskrebs, 2500 sterben an den Folgen“, sagt Professor Schwarz. Das müsste nicht sein. Warum ist die sogenannte HPV-Impfung hierzulande zu unpopulär, ja fast unbekannt geblieben? Das ist für Tino F. Schwarz eine Geschichte voller Missverständnisse und Fehlinterpretationen in der langen und eigentlich sehr erfolgreichen Forschung, diesen Krebs zu besiegen.
Sie beginnt in den 1980er Jahren. Damals wurde festgestellt, dass das Zervixkarzinom eine Krebsart ist, die durch Viren ausgelöst wird. Diese Entdeckung gilt als bahnbrechend. Federführend bei der Erforschung war der – kurzzeitig auch in Würzburg tätige – Virologe Professor Harald zur Hausen vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Seine Erkenntnisse, für die er 2008 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, ermöglichten die gezielte Entwicklung einer Impfung gegen die Humanen Papillomviren, die auch Warzenviren genannt werden. Sie verursachen Feig- beziehungsweise Genitalwarzen.
2004 startete in 14 Ländern quer über dem Globus die PATRICIA-Studie, um die Wirksamkeit eines der mittlerweile entwickelten Impfstoffe zu prüfen. Das Juliusspital war dabei eine Station von 134 weltweit, Studienleiter in Würzburg war Professor Schwarz. Dort nahmen rund 400 Mädchen und Frauen im Alter von zehn bis 55 Jahren an dem klinischen Entwicklungsprogramm teil.
Im vergangenen Herbst wurde das Endergebnis der PATRICIA-Studie veröffentlicht, das laut Professor Schwarz überraschend wie sensationell sei: „Es gibt eine Gesamtwirksamkeit gegen hochgradige Krebsvorstufen, die weit über dem liegt, was eigentlich aufgrund der Zusammensetzung des Impfstoffs erwartet wurde.“ Und diese Gesamtwirksamkeit würde sich nicht nur auf die beiden HP-Viren von Typ 16 und 18 beziehen, die rund 70 Prozent aller Gebärmuttererkrankungen verursachen. Vielmehr gäbe es auch aufgrund von sogenannten Kreuzprotektionen einen Schutz vor weiteren HPV-Typen und damit letztlich gegen alle höhergradigen Krebsvorstufen in Höhe von insgesamt 93 Prozent, so Schwarz. „Die HPV-Impfung würde Frauen davon bewahren, dieses Stadium je zu erreichen.“
Auch für den anderen Impfstoff gibt es laut Professor Schwarz Studiendaten, die nicht nur eine Wirksamkeit gegen Gebärmutterhalskrebs, sondern auch gegen alle Zellveränderungen in Vulva, Vagina und im Analbereich zeigen. Das heißt: „Egal, welcher Impfstoff: Hauptsache die Mädchen und Frauen lassen sich impfen. Je mehr geimpft werden, desto mehr Herdenimmunität gibt es mit dem Ergebnis, dass künftig der ganze anogenitale Bereich der Frau vor HPV-Viren geschützt ist, und das ist spektakulär.“
Seit 2007 gibt es eine Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) für Mädchen und Teenager im Alter von zwölf bis 17 Jahren, sich gegen HPV impfen zu lassen. Die Kosten werden für diese Altersgruppe von den Krankenkassen erstattet. Aufgrund der Daten der noch laufenden Langzeitstudie hält die Wirksamkeit der HPV-Impfung mindestens zehn Jahre an. „Auch darüber hinaus schaut es sehr gut aus, sodass eine Auffrischimpfung nicht notwendig sein wird.“
Selbst Frauen über 18 können laut STIKO von der Impfung profitieren. Professor Schwarz rät deshalb auch älteren Frauen, sich trotz Eigenbeteiligung von rund 450 Euro bei drei Dosen impfen zu lassen (einige Krankenkassen erstatten sogar die Impfung bis 26 Jahre). „Die Impfung ist mittlerweile viel günstiger geworden“, so Schwarz, dennoch sei die Impfrate niedrig. „Dabei kann die HPV-Impfung für Frauen jeden Lebensalters, solange sie sexuell aktiv sind, sinnvoll sein.“
In anderen Ländern laufen die Impfprogramme gegen Gebärmutterhalskrebs laut Tino F. Schwarz erfolgreich. „In Großbritannien beispielsweise sind 80 bis 85 Prozent aller Zwölf- bis 17-Jährigen geimpft. Auch in Italien, Spanien, Frankreich, den Niederlanden, Portugal und Polen ist die Durchimpfrate sehr hoch; in Finnland gibt es kein Mädchen, das nicht geimpft ist. Darüber hinaus wird auch in Brasilien, Panama, Mexiko, Australien und Taiwan fleißig geimpft“, so Schwarz. In Afrika würde gerade ein durch die „Bill und Melinda Gates-Stiftung“ finanziertes Impfprogramm aufgebaut, weil dort viele Aidskranke an Gebärmutterhalskrebs sterben. „Wenn man gezielt gegen HPV impft, reduziert man damit die Komplikationen der HIV-Infektion.“
Nur in Deutschland kommt die HPV-Impfung nicht an. Selbst in muslimischen Ländern wie Malaysia und Abu Dhabi sei die Impfrate höher als in Deutschland, erlebt Professor Schwarz bei Kongressen immer wieder. „Bei uns beträgt sie lediglich 30 Prozent.“ Diese niedrige Impfrate bezeichnet Schwarz als „Tragödie in Anbetracht der hohen Zahl von Krebsvorstufen und deren Komplikationen, die derzeit in Deutschland behandelt werden“.
Nach Angaben der Krankenkassen würden etwa 140 000 Maßnahmen am Muttermund durchgeführt, so Professor Schwarz, „und 93 Prozent dieser Konisationen könnten verhindert werden“. Dabei wird am Gebärmutterhals eine kegelförmige Gewebeprobe ausgeschnitten. „Die Konisation ist einer der Hauptgründe für eine spätere Frühgeburtlichkeit. Wer sich impfen lässt, schützt sich also nicht nur selbst, sondern auch das Kind.“
Auch der Kostenfaktor bleibt hierzulande unberücksichtigt. „Ich verstehe nicht, warum die Krankenkassen nicht mehr Werbung für die HPV-Impfung machen“, wundert sich der Würzburger Impfexperte und fügt hinzu. „Generell scheint der Nutzen der HPV-Impfung bei uns nicht vermittelbar zu sein – weder bei den Ärzten noch bei den Müttern, die für ihre Töchter sowie bei erwachsenen Frauen, die für sich selbst entscheiden.“ Zudem sei es ein Fehler gewesen, bei der HPV-Impfung vor allem auf Gynäkologen zu setzen, da ohnehin nur zehn Prozent von ihnen impfen würden. Besser wäre es gewesen, die HPV-Impfung in ein Schulprogramm einzubauen – wie dies in Großbritannien der Fall sei.
„In Deutschland, aber auch in Österreich, wo so gut wie gar nicht geimpft wird, gibt es kein Verständnis für die Wirksamkeit der Impfung und in der Bevölkerung wenig Wissen über die Risiken einer HPV-Infektion.“ Die HP-Viren werden bei sexuellen Aktivitäten übertragen, informiert Professor Schwarz, „also nicht nur beim Geschlechtsverkehr“. Viele Frauen haben im Lauf ihres Lebens mit einer HPV-Infektion zu tun. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie an Gebärmutterhalskrebs erkranken. Eine chronische HPV-Infektion ist aber nach Angaben des Mediziners „die zwingende Voraussetzung für die Entstehung des Krebses“.
Idealerweise sollten Mädchen geimpft werden, bevor sie sexuell aktiv werden und sich mit den Viren infizieren können. Auch für ältere Frauen ist, so Dr. Schwarz, eine Impfung sinnvoll. Denn wer wechselnde Sexualpartner hat oder nach einer Trennung eine neue Beziehung beginnt, setzt sich dem Risiko einer Infektion aus. Auch fremdgehende Partner stellen eine erhebliche Gefahr dar, wie eine Studie aus Großbritannien ergab. Dort stieg die Zahl der HPV-Infektionen bei der Gruppe der 49-jährigen verheirateten Frauen innerhalb von drei Jahren von zehn auf 21 Prozent.
Eltern möchte Professor Schwarz mit diesem Beispiel zum Nachdenken anregen: „Wenn der 17-jährige Sohn beim Schüleraustausch sich in Großbritannien in ein Mädchen verliebt, dann kann er sich bei ihr alles holen, nur kein HPV, denn die Mädchen dort sind geimpft.“ Deutsche Teenager und Frauen hätten dagegen ein doppeltes Risiko: Sie verbreiten die Humanen Papillomviren und können sich anstecken – egal, wo sie sich auf dem Globus befinden.
In anderen Ländern hört der Professor dagegen, wenn es um ein Impfprogramm gegen die HPV-Infektion geht, immer wieder sinngemäß den Satz: „Wir wollen damit die zukünftigen Mütter unserer Nation schützen.“ Und Schwarz fügt hinzu: „Diese Politiker haben es verstanden, bei uns spüre ich immer ein Zögern, wenn ich vor Gesundheitspolitikern oder Ärztekollegen das Thema anspreche.“