Ruhiger, ja friedlicher als Ornes kann kein Dorf sein. Ausgestorben, im wahrsten Wortsinn. Leises Vogelgezwitscher durchbricht die Stille. Zwischen ein paar Tannen stehen die Ruinen der Kirche, die hier im Jahr 1828 zu Ehren des Erzengels Michael errichtet wurde – des Schutzpatrons der Soldaten, ausgerechnet. Nur die robusten Steinmauern hielten den Artilleriegeschossen stand, die Ornes vor knapp 100 Jahren ausgelöscht haben. Es gehört zu den neun lothringischen Dörfern in der Nähe von Verdun, die zwischen 1914 und 1918 komplett zerstört und nicht mehr wieder aufgebaut wurden.
Gut 700 Einwohner zählte die Gemeinde Anfang des 20. Jahrhunderts; heute erinnern nur noch die Überreste der Michaelskirche und eine Gedenktafel an ein früheres Dorfleben. Gras ist über den einstigen Kriegsschauplatz gewachsen. Einen Bürgermeister hat Ornes auch heute noch. Ernannt wird er vom zuständigen Präfekten, da es ja keine Wähler mehr gibt. Es ist eine symbolische Funktion.
Die ganze Gegend ist gespickt von symbolischen, aber auch konkreten Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg, dessen Ausbruch sich in diesem Sommer zum 100. Mal jährt. Am Rande der Straßen tauchen Bunker, Soldatenfriedhöfe, Mahnmale auf. Die meisten Häuser stammen aus den 20er und 30er Jahren, der Zeit des Wiederaufbaus nach der Katastrophe.
„Schon seit den Hunnen lag Lothringen ständig in der Schusslinie und geriet bei kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen die Fronten“, erzählt Vincent Jacquot vom Tourismusamt, der hier aufgewachsen ist. „Aber unser größtes Trauma ist der Erste Weltkrieg.“ Das Blutvergießen hat Spuren hinterlassen: Der frühere Kampfbereich „Les Éparges“ auf einer Anhöhe gleicht durch die Verminung einem Kratergebiet mit tiefen Ausbuchtungen. Auf den einstigen Schlachtfeldern – man nennt sie „Heilige Erde“ – werden auch nach 100 Jahren noch Knochen von gefallenen Soldaten gefunden.
Verdun war nicht nur Schauplatz der brutalen Schlacht 1916, die sich über zehn Monate zog mit einer erschütternden Bilanz: Mehr als 300 000 deutsche und französische Soldaten ließen ihr Leben, weitere 400 000 wurden verletzt. Vier Jahre lang bekämpften sich hier die Feinde in einem langwierigen Stellungskrieg. Der französische General Joseph Joffre wollte die von 39 Forts umgebene Stadt keinesfalls verlieren, um die Moral der Soldaten aufrechtzuerhalten. Die Oberste Heeresleitung der Deutschen wiederum plante, die Franzosen unter einem beispiellosen Artilleriebeschuss rasch aufzureiben, hatte aber nicht mit deren zähem Widerstand gerechnet, den sie nicht brechen konnte. Das begründete in Frankreich den patriotischen Heldenmythos um die opferbereiten Frontsoldaten von Verdun. „Aber kann man angesichts dieses Abschlachtens von Hunderttausenden von Sieg sprechen? Es gab nur Verlierer“, sagt Vincent Jacquot.
Als Kind der Region stets mit dem sinnlosen Blutbad von Verdun konfrontiert, ist der 35-Jährige ein überzeugter Pro-Europäer. Eine „Pflicht“ nennt er die Erinnerungsarbeit. Gerade angesichts aktueller gewalttätiger Konflikte in anderen Teilen der Welt. Und wer sich heute wegen der Euro-Krise zerfleische oder die Errungenschaften der EU infrage stelle, dem rate er zu einem Besuch der ehemaligen Schlachtfelder. „Spätestens hier erkennt man den unschätzbaren Wert eines friedlichen Europas.“
Rückblick auf den Krieg, seine Ursachen und Folgen als Friedensbotschaft für heute und die Zukunft – unter diesem Blickwinkel bereitet das Departement Maas einen vier Jahre andauernden Gedenkmarathon mit Seminaren, Ausstellungen, Begegnungen vor, an dem sich Vereine, Schulen und Universitäten auf beiden Seiten des Rheins beteiligen. „Das Programm ist voll, um nicht zu sagen: zu voll“, sagt Juliette Roy, die bei der „Mission Geschichte“ des Generalrates für die Koordinierung der Projekte verantwortlich ist.
Bis 2018 gibt es jedes Jahr ein Hauptthema und ein Gastland, zum 100-jährigen Gedenken der Schlacht um Verdun 2016 wird das Deutschland sein. Lange blieb das Thema sensibel. Das zunächst geringe Interesse auf Seite der Deutschen, die sich stärker mit der übermächtigen Last des Zweiten Weltkrieges auseinandersetzen, erstaunte in Frankreich, wo der so verlustreiche„Große Krieg“ einen hohen Stellenwert hat. Wobei man sich dort lange nur für die auf der französischen Seite gelegenen ehemaligen Schlachtorte interessierte. Erst 2009 wurden beim Beinhaus von Douaumont, wo die Knochen von 130 000 nicht identifizierten deutschen und französischen Soldaten liegen, neben der französischen Fahne auch die deutsche und die europäische angebracht, beide Nationalhymnen erklangen. „Ein wichtiges Signal“, findet Juliette Roy. Im Juni wird im Weltzentrum des Friedens im ehemaligen Bischofspalast von Verdun die Ausstellung „Was bleibt vom Ersten Weltkrieg?“ eröffnet. „Statt einer Chronologie betrachten wir die Auswirkungen auf die Gesellschaft: von der Rolle der Frau über medizinische Fortschritte bis zum erstmaligen Rückgriff auf Kriegspropaganda“, erklärt Véronique Harel, eine der beiden Kuratorinnen.
Obwohl nur ein Städtchen mit knapp 20 000 Einwohnern, hat Verdun internationale Berühmtheit erlangt als Symbol für das blutige Aufeinanderprallen der Kriegsgegner. Ein riesiges Denkmal im Zentrum macht die Erinnerung daran auch in der Stadt allgegenwärtig. Die Fußgängerpromenade an der Maas trägt den Namen „Quai de Londres“, „London-Ufer“, aus Dankbarkeit gegenüber der britischen Hauptstadt, die den Wiederaufbau der zerstörten Stadt mitfinanzierte. „Schließlich hat Verdun eine europäische Dimension“, erklärt Jacquot diese Geste.
Was auch als Last erscheinen kann, versucht die Region gerade jetzt als Trumpf zu nutzen, wenn der Gedenktourismus geschichtlich Interessierte herführt, die im Idealfall länger bleiben, Rad- oder Wanderausflüge in die Natur machen. Man hofft auf einen baldigen Eintrag der Stadt Metz und der Schlachtfelder von Verdun ins Weltkulturerbe der Unesco. Ein großer Erfolg ist seit 1996 das Freiluftspektakel „Von den Flammen . . . zum Licht“ mit 250 freiwilligen deutschen und französischen Schauspielern, das mittels Spezialeffekten nicht nur die Kämpfe nachstellt, sondern auch Kriegsalltag zeigen will. Ebenfalls spektakulär ist die Fahrt mit einem Wägelchen durch die Zitadelle, in deren unterirdischen Gängen 2000 Menschen Schutz vor den unaufhörlichen Bombardements finden konnten. Sie beherbergte unter anderem eine Mühle und eine Bäckerei, in der bis zu 28 000 Brotrationen am Tag hergestellt wurden. Dort werden Szenen vom Leben an der Front nachgespielt.
Zu besichtigen sind außerdem die Festungen von Douaumont und Vaux mit ihren Galerien, Bunkern, Wach- und Schutztürmen und die durch ihre schiere Größe bewegenden Soldatenfriedhöfe mit langen Reihen einfacher Kreuze, auf denen die Namen der meist noch so jungen Gefallenen stehen. Und das Beinhaus von Douaumont, das am 22. September 1984 durch den Handschlag von Präsident François Mitterrand und Kanzler Helmut Kohl zum starken Symbol für die deutsch-französische Versöhnung wurde. Hier habe ihm ein junger Deutschtürke eine „Lektion fürs Leben“ gegeben, erzählt Vincent Jacquot. Diesen habe er bei einer Besichtigung darauf hingewiesen, dass er neben den Massengräbern der Christen und der Juden auch das der Muslime besuchen könne. „Wieso, die sind doch alle gleich wichtig“, habe der Schüler erwidert. „Ein Mensch ist ein Mensch.“
Über die wuchtigen Monumente im unmittelbaren Kampfgebiet der „roten Zone“ hinaus veranschaulicht auch das Hinterland der Front die Brutalität des Krieges. Hier liegt das im Wald versteckte Marguerre-Lager, benannt nach dem deutschen Kapitän Hans Marguerre, der eine Häusersiedlung aufbauen ließ und mittels kleinteiliger Verzierungen eine anrührende Wohnlichkeit im rauen Kriegsalltag schuf. Am Frontbogen von Saint-Mihiel, der im September 1914 durch das Fortschreiten der deutschen Linie geformt wurde, sind die Überreste der deutschen und französischen Schützengräben sichtbar, die teilweise nur ein paar Dutzend Meter voneinander entfernt lagen. Die massiven Schützengräben aus Beton blieben intakt, die die Deutschen teils im Kugelhagel bauten im Ehrgeiz, Boden gutzumachen und zu verteidigen. Demgegenüber drohen die französischen Konstruktionen aus Holz zu verfallen.
Um das zu verhindern und auch das historische Erbe dieser versteckteren Orte zu erhalten, hat sich an einem kalten Samstagnachmittag hier eine Gruppe junger Leute eingefunden, die mit Hilfe von Männern aus der Umgebung die Schützengräben restaurieren. Pfadfinder seien sie, erklärt Monique de la Faye de Guerre, eine ihrer Betreuerinnen. „Es ist gut, wenn die jungen Leute sich hier engagieren, damit sie ein Bewusstsein für das bekommen, was sich hier abgespielt hat.“
Für jüngere Generationen sei das in der Region so verankerte Geschichtsbewusstsein nicht mehr selbstverständlich, sagt auch die 23-jährige Chloé Arquevaux, Praktikantin beim Weltzentrum des Friedens in Verdun. „Der Treffpunkt von uns Jugendlichen in meinem Dorf war der deutsche Soldatenfriedhof. Wir nutzten ihn ganz einfach als Park.“ Man lebt hier eben mit dem Ersten Weltkrieg. Auch noch nach 100 Jahren.
sss
Gedenktourismus
Verdun und die gesamte Region werden bis 1918 mit diversen Veranstaltungen, Ausstellungen, Lesungen dem Ersten Weltkrieg gedenken.
Informationen zum Programm und Tourismus in der Region: www.tourismus-lothringen.eu
Link zum Weltzentrum des Friedens und die Ausstellung „Was bleibt vom Ersten Weltkrieg?“ (Eröffnung im Juni): www.cmpaix.eu
Freiluft-Spektakel „Von den Flammen… zum Licht“ (mit Übersetzung): spectacle-verdun.com/de
Verdun und der Gedenktourismus
Die Stadt in Lothringen mit ihren 19 Festungen, 19 Infanteriewerken und einem großen Straßennetz war zwar von 1914 bis 1918 umkämpft. Berühmt wurde sie aber für die als „Hölle von Verdun“ bezeichnete Schlacht, bei der sich deutsche und französische Soldaten zehn Monate lang in einem erbitterten Stellungskrieg bekämpften. Am 21. Februar 1916 um 7.12 Uhr startete die deutsche Großoffensive, von der Deutschland sich angesichts des schlechten Zustandes der französischen Verteidigungsstellungen einen schnellen Sieg versprach. Sie war der Auftakt zu einer vernichtenden Schlacht, bei der rund 60 Millionen Granaten zum Einsatz kamen. Insgesamt gab es über 300 000 Tote und 400 000 Verletzte auf beiden Seiten. Vier Monate lang konnten die Deutschen in Richtung Verdun vorrücken, aber der Widerstand der Franzosen zwang die Angreifer in einen Zermürbungskrieg, der auf beiden Seiten gleich hohe Verluste verursachte. Der deutsche Plan scheiterte. Doch erst 1918 wurde das gesamte Gebiet dank des massiven Einsatzes amerikanischer Truppen zurückerobert. Bis 2018 werden Verdun und die gesamte Region mit diversen Veranstaltungen, Ausstellungen, Lesungen des Ersten Weltkrieges gedenken. Informationen zum Programm und Tourismus in der Region: www.tourismus-lothringen.eu
Link zum Weltzentrum des Friedens und die Ausstellung „Was bleibt vom Ersten Weltkrieg?“ (Eröffnung im Juni): www.cmpaix.eu
Freiluftspektakel „Von den Flammen . . . zum Licht“ (mit Übersetzung): spectacle- verdun.com/de Text: BHO