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BERLIN
Ein Satz und seine Folgen
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Martin Ferber
Martin Ferber
 |  aktualisiert: 03.12.2019 09:12 Uhr

Die Kanzlerin redete nicht lange um den heißen Brei herum, sondern zeigte sich mit Blick auf den schon seit Monaten andauernden und nicht enden wollenden Zustrom an Flüchtlingen tatkräftig und entschlossen. Der Bund, die Länder und die Gemeinden würden sich bald schon auf ein ganzes Bündel an Maßnahmen einigen, um das Problem zu bewältigen, Verzagtheit und Angst seien nicht angebracht. „Ich sage ganz einfach: Deutschland ist ein starkes Land. Wir haben so vieles geschafft, wir schaffen das!“ Und wo etwas im Wege stehe, „muss es überwunden werden“.

Ein Jahr ist es jetzt her, dass Angela Merkel am 31. August 2015 bei ihrem traditionellen Auftritt vor der Bundespressekonferenz jenen legendären Satz prägte, der wohl fortan für alle Zeiten mit ihrer Kanzlerschaft in Verbindung gebracht wird und der die deutsche Politik in den vergangenen zwölf Monaten nachhaltig verändern sollte. Dabei war an jenem 31. August noch gar nicht abzusehen, dass die wahren Probleme und Herausforderungen für die Verantwortlichen in den Gemeinden, den Ländern und dem Bund sowie die Hilfsdienste und die zahllosen freiwilligen Helfer erst noch kommen sollten.

Denn wenige Tage später, in der Nacht vom 4. auf den 5. September, entschied Angela Merkel zusammen mit ihrem österreichischen Amtskollegen Werner Faymann, die in Budapest gestrandeten Flüchtlinge, die dort ohne Versorgung bei großer Hitze ausharrten, in Deutschland aufzunehmen. Doch was als einmalige humanitäre Geste für etwa 7000 bis 8000 Menschen gedacht war, löste in der Folge einen bis dahin nicht gekannten Massenansturm aus.

Pro Tag kamen mehr als 5000 Flüchtlinge nach Deutschland, alle Länder auf der sogenannten Balkanroute zwischen Griechenland und Österreich winkten die Menschen nur noch durch, ohne sie zu kontrollieren und zu registrieren, bis sie Deutschland erreichten. An der Grenze und in den Erstaufnahmeeinrichtungen spielten sich chaotische Szenen ab. Schon am Morgen nach der Aufnahme der Flüchtlinge sagte CSU-Chef Horst Seehofer der Kanzlerin, die ihn in der Nacht informieren wollte, aber nicht erreichte: „Das war ein Fehler, der uns noch lange beschäftigen wird. Wir werden den Pfropfen nicht mehr zurück in die Flasche bekommen.“

Seitdem wagt die Politik den Spagat zwischen Merkels „Wir schaffen das“ und Seehofers Versuch, die Flasche doch wieder zu verschließen, zwischen Aufnahmebereitschaft und Abschottung, Willkommenskultur und Zurückweisung. Weil ein Land nach dem anderen entlang der Balkanroute seine Grenzen dicht machte, kam der Flüchtlingsstrom gegen Jahresende praktisch zum Erliegen. Gleichzeitig installierte Europa eine gemeinsame Militärmission zum Schutz der EU-Außengrenze vor der libyschen Küste und schloss mit der Türkei ein Abkommen.

In Deutschland wurde schon im Oktober zum ersten Mal das Asylrecht verschärft, unter anderem wurden die Staaten des westlichen Balkan zu sicheren Herkunftsländern erklärt, abgelehnte Asylbewerber sollten rascher und konsequenter abgeschoben werden. Weitere Verschärfungen des Asylrechts sowie der Sicherheitsgesetze folgten in diesem Jahr, zudem wurde aber auch ein Integrationsgesetz nach dem Grundsatz „Fordern und Fördern“ verabschiedet.

Unverkennbar, die Flüchtlingspolitik veränderte das Land und die politische Kultur. Sie spaltete nicht nur das Land in Befürworter und Gegner, sondern auch die Unionsparteien. Offen kritisierte CSU-Chef Horst Seehofer die Bundeskanzlerin und ging auf Distanz zu Merkel, er drohte gar mit einer Klage des Freistaats Bayern vor dem Bundesverfassungsgericht und forderte mehrfach eine feste Obergrenze von 200 000 Zuwanderern pro Jahr. In Dresden erhielt die nationalkonservative Pegida-Bewegung, die schon am Ende zu sein schien, enormen Zulauf. Gleichzeitig gewann die rechtspopulistische AfD, die sich klar gegen die Zuwanderung stellte, an Bedeutung.

Die Vorfälle in der Silvesternacht in Köln, als Hunderte Frauen von Ausländern auf der Kölner Domplatte sexuell belästigt wurden, führten dazu, dass sich der Ton der Auseinandersetzung verschärfte. Bei den Landtagswahlen im März in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt zog die AfD in die Landesparlamente Nummer fünf bis acht, in Sachsen-Anhalt wurde sie mit 24,2 Prozent sogar zweitstärkste politische Kraft. Auch bei den Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern am 4. September könnte sie erneut auf über 20 Prozent kommen.

Und Angela Merkel? Rund ein Jahr nach ihrem Auftritt vor der Bundespressekonferenz wiederholt sie, wieder vor der Bundespressekonferenz, ihren Satz: „Wir schaffen das.“ Es gebe keinen Grund, davon abzurücken. In vielen Gemeinden stehen die Erstaufnahme-Unterkünfte leer, die Flüchtlinge erhalten Deutsch-Kurse, ihre Kinder gehen in die Schule. Die Zahl der Abschiebungen nahm deutlich zu, weitere Verschärfungen der Sicherheitsgesetze sind geplant. In Umfragen liegen CDU/CSU bei 35 Prozent, weit vor der SPD (23). Und die AfD würde mit zehn Prozent in den Bundestag einziehen.

 
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