Als sich die Nachricht verbreitete, strömten die Menschen auf die Straßen. Mit Autohupen, Freudenschüssen in die Luft und Sprechchören feierten viele Bewohner der syrischen Stadt Qamishli an der türkischen Grenze am Sonntagabend eine Vereinbarung, die den Weg zur Rückkehr der syrischen Armee in ihre Stadt ermöglichen soll. „Wir haben die ganze Nacht gefeiert, ich habe nicht geschlafen“, sagte Nidal Rahawi, ein assyrischer Christ in Qamishli, telefonisch gegenüber dieser Redaktion in der türkischen Grenzstadt Nusaybin, die von der syrischen Stadt nur durch den Grenzzaun getrennt wird.
Der türkische Einmarsch hat in Nordsyrien eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, die das Kräfteverhältnis zwischen den diversen Akteuren im Syrien-Konflikt durcheinander wirbelt. Die Karten werden neu gemischt – doch schon jetzt lässt sich absehen, wer die Gewinner und Verlierer sein werden.
Eine Einigung mit Assad in aller Eile
Was den christlichen Aktivisten Nidal Rahawi und andere Bewohner von Qamishli nach mehreren Tagen schwerer Kämpfe in ihrer Stadt auf die Straße trieb, war eine Abmachung zwischen der syrischen Kurdenmiliz YPG und der syrischen Regierung in Damaskus. Die YPG, die seit Jahren im Nordosten Syriens herrscht und von der Türkei als Ableger der Terrororganisation PKK bekämpft wird, ist durch die türkische Intervention in die Defensive gedrängt worden und hat wegen des geplanten Abzuges der US-Truppen aus der Gegend keine Beschützer mehr.
Um der drohenden Niederlage zu entgehen, einigte sich die Miliz am Sonntag in aller Eile mit dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad: Dessen Truppen sollen in das YPG-Gebiet einrücken, aus dem sie sich vor sieben Jahren zurückzogen – damals war ihnen der Krieg in anderen Landesteilen wichtiger. Bis an die türkische Grenze würden die Regierungstruppen vorrücken, teilte die von der YPG dominierte Kurdenregierung in Nordsyrien mit. Damit will die YPG den Rückzug der türkischen Armee erzwingen. Auch YPG-Anhänger feierten deshalb in der Region.
Für die Christen in Qamishli und anderswo ist aber entscheidend, dass mit der Rückkehr Assads die kurdische Verwaltung entmachtet werden dürfte, weil Damaskus keine regionale Selbstverwaltung duldet: Die YPG-Regierung werde von den meisten Christen, Arabern und selbst von vielen Kurden in der Gegend abgelehnt, sagte Ahikar Isa, ein weiterer Christ in Qamishli, der auf ein Ende der YPG-Herrschaft hofft. „Wir sind sehr froh“, sagte Isa dieser Redaktion.
Assads Truppen sind da, wo sie vor sieben Jahren abzogen
Aktivist Rahawi berichtete, die Christen hätten unter den YPG-Behörden gelitten. Die Kurdenmiliz habe unter anderem einige christliche Schulen geschlossen und in anderen Unterricht nach YPG-Schulbüchern durchgesetzt. Doch nun sei das Ende in Sicht, meinte Rahawi: Er habe selbst mit syrischen Regierungsvertretern gesprochen, die das Abkommen bestätigt hätten. Erste syrische Soldaten seien bereits in Qamishli eingetroffen. Die Truppenpräsenz solle „Schritt für Schritt“ in der ganzen Region ausgebaut werden. Ein Christ im türkischen Nusaybin berichtete ebenfalls, seine Verwandten in Qamishli wollten, „dass das alles mal vorbei ist und der syrische Staat wiederkommt und endlich Ruhe ist“.
In Nusaybin waren am Montag viele Geschäfte geschlossen, die Straßen meist menschenleer. In den vergangenen Tagen waren neun Einwohner der Stadt beim Einschlag von YPG-Geschossen getötet worden. An der Grenzlinie war es still, nur Vogelgezwitscher war zu hören. Auch in Qamishli war es am Montag ruhig, wie von der Grenze aus zu sehen war. Das syrische Staatsfernsehen berichtete, Assads Truppen seien bei Hasaka, rund 60 Kilometer südlich der Stadt, aufgetaucht. Anderen Berichten zufolge erreichte eine weitere Vorhut der Regierungstruppen weiter westlich die Stadt Ayn Issa, die rund 30 Kilometer südlich der türkischen Grenze liegt. Laut einigen Meldungen will die syrische Armee auch in die bisher von den Kurden gehaltene Grenzstadt Kobani einrücken.
Was geschieht, wenn sich die türkischen und syrischen Truppen begegnen?
Die große Frage ist, was geschehen wird, wenn sich die von Norden her vorrückenden türkischen Truppen und deren Verbündete von der syrischen Rebellenarmee SNA und die von Süden kommenden Einheiten Assads begegnen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan verlässt sich offenbar auf sein gutes Verhältnis zum russischen Staatschef Wladimir Putin, dem wichtigsten Partner Assads. Es gebe eine Vereinbarung mit Russland über das Vorgehen in Kobani, sagte Erdogan am Montag.
Doch ganz so einfach wird es nicht werden für die Türkei. Sie hatte die Intervention mit dem erklärten Ziel begonnen, die YPG aus der Grenzregion zu vertreiben und auf syrischem Boden eine „Sicherheitszone“ zur Rückführung von zwei Millionen syrischer Flüchtlinge aus der Türkei zu errichten. Doch nun will sich die YPG mit der syrischen Armee zusammentun und die Türkei vom syrischen Territorium zurückdrängen. Die Kurdenkämpfer wollen nach eigenen Angaben auch im nordwestsyrischen Afrin zusammen mit Assads Truppen gegen die türkische Armee vorgehen, die das dortige Gebiet seit anderthalb Jahren besetzt hält.
Was die syrischen Soldaten erreichen sollen
Laut einigen Berichten sollen die syrischen Soldaten alle Grenzgebiete zwischen Manbidsch am Euphrat und dem 400 Kilometer weiter östlich gelegenen Derik an der irakischen Grenze unter ihre Kontrolle bringen. Laut kurdischen Angaben sieht die Vereinbarung zwischen der YPG und der Assad-Regierung zudem vor, dass die YPG für die Bewachung von inhaftierten Kämpfern des Islamischen Staates (IS) und deren Familienangehörigen zuständig bleibt. Am Sonntag war eine unbekannte Zahl von IS-Gefangenen aus Internierungslagern geflohen.
Sollte Damaskus seine Truppen tatsächlich im gesamten Nordosten des Landes einsetzen, wäre die von Erdogan angestrebte „Sicherheitszone“ möglicherweise nicht durchsetzbar. Assad beansprucht das ganze Staatsgebiet Syriens und dürfte sich kaum mit einer türkisch kontrollierten Zone auf dem eigenen Territorium anfreunden. Allerdings muss die syrische Regierung vorsichtig vorgehen. Ihre Armee ist den türkischen Truppen eindeutig unterlegen.
Für die YPG ist der Vertrag mit Assad eine Notlösung. Die Kurdenmiliz hatte sich lange auf den Schutz durch die USA verlassen und steht seit dem Beschuss zum Truppenrückzug von Präsident Donald Trump vergangene Woche alleine da. Deshalb musste sich die YPG zwischen zwei schlechten Möglichkeiten entscheiden: den türkischen Vormarsch hinzunehmen oder die Assad-Regierung zur Hilfe zu rufen. Dass die syrische Führung der Fortsetzung der YPG-Selbstverwaltung zustimmen wird, ist unwahrscheinlich.
Die Einigung mit Damaskus macht die Lage für Ankara schwieriger
Auch für die Türkei wird es ungemütlicher. Die Einigung von YPG und Damaskus könnte die Lage für die Türkei schwieriger machen, sagte der Soziologe Mesut Yegen von der Istanbuler Sehir-Universität, dem türkischen Nachrichtenportal T24. Er erwarte, dass sich die Türkei in Nordsyrien am Ende mit weit weniger zufrieden geben müsse, als sie ursprünglich angestrebt habe.
Die Türkei kämpft zudem nicht nur gegen die YPG, sondern auch gegen die internationale Welle der Kritik am Syrien-Einmarsch. Nach glaubwürdigen Berichten der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte sollen die mit der Türkei verbündeten syrischen SNA-Rebellen bei ihrem Vormarsch mehrere Gefangene hingerichtet haben. Auch die syrische Kurdenpolitikerin Hevrin Khalaf wurde demnach von den Freischärlern aus ihrem Wagen gezogen und erschossen.
Erdogan tat alle Einwände am Montag als Resultat einer Türkei-feindlichen Desinformationskampagne ab. Appelle von Bundeskanzlerin Angela Merkel und anderen westlichen Politikern, die Türkei solle ihre Militäraktion einstellen, sowie Sanktionsdrohungen aus den USA und Europa weist Ankara zurück.
Wichtiger als die Haltung des Westens ist für Erdogan die Position Putins. Russland will den türkischen Präsidenten dazu bringen, sich mit seinem Erzfeind Assad zu einigen – und die USA auf diese Weise endgültig aus Syrien zu verdrängen. Ohne Rückhalt von Putin kann Erdogan seinen Krieg in Syrien nicht fortsetzen: Er wird möglicherweise die Kröte schlucken und mit Assad verhandeln müssen.
Und das sind die Gewinner der vergangenen Tage
Damit wird deutlich: Assad und Putin sind die Gewinner der Ereignisse der vergangenen Tage. Der Ruf der USA hat dagegen sehr gelitten. Washington zog am Montag seine letzten Diplomaten aus Nordsyrien ab, nachdem am Wochenende bereits der Rückzug der 1000 bisher in der Region stationierten US-Soldaten organisiert wurde. Während die USA ihre Rolle in Syrien beenden und sich dabei den Vorwurf zuziehen, den bisherigen Partner YPG im Stich zu lassen, trumpft Russland auf: Putin, inzwischen einer der mächtigsten Männer in Nahost, begann am Montag einen Besuch in Saudi-Arabien.