Dies ist die Geschichte eines 16-jährigen Mädchens und einer hilflosen Familie. Das Mädchen heißt Sarah O., Schauplatz des Geschehens ist ausgerechnet Konstanz, das eigentlich etwas von heiler Welt hat. Doch von heiler Welt wollte Sarah O. nichts wissen. Sarah zog in den „Heiligen Krieg“, den Dschihad. Die 16-Jährige reiste nach Syrien, um sich dort einer Terrormiliz anzuschließen. Sie hat ihr bisheriges Leben über Bord geworden, nennt sich heute Amatul Azis Al-Muhajira. Und dies ist eine Spurensuche.
Ihr Zuhause: Sarahs Auszug in den Heiligen Krieg beginnt in Petershausen. In dem Wohngebiet, in dem Sarah mit ihrer Schwester und ihren Eltern lebte, reihen sich Wohnblocks aus der Wirtschaftswunderzeit aneinander. Der Ausländeranteil ist hier höher als in anderen Vierteln von Konstanz. Aber Petershausen ist keine Parallelwelt. Familien leben hier, die bezahlbaren Wohnraum in der Stadt suchen und die ruhige Lage zu schätzen wissen. So wie Familie O.
Nach allem, was man über sie hört, ist es eine bürgerliche Familie, die Wert auf Bildung legt, ein unauffälliges Leben führen will, beide Töchter besuchen das Gymnasium. Familie O. will keine Fragen mehr beantworten. Nur für sich selbst muss sie das tun: Wie konnte es so weit kommen? Sarah O. soll regelmäßig islamistisch gefärbte Videos angeschaut haben, geht nur verschleiert auf die Straße, umgibt sich mit anderen Frauen, die sie in ihren extremistischen Gedanken bestärken. Arabischstämmige Männer, die Mohammed O. kennen, sagen, er habe viel gearbeitet, er hat einen Job in der Schweiz, die Mutter, eine Deutsche, sei seit einiger Zeit krank. In der Moschee wurde die zum Islam konvertierte Frau schon seit längerem nicht mehr gesehen.
Im Sommer 2011 erlauben die Eltern, dass ihre Tochter den Sommer in Algerien verbringt, dort eine Religionsschule besucht. Gut zwei Jahre später fälscht sie die Unterschrift ihres Vaters, um als Minderjährige in den Nahen Osten fliegen zu können.
Ihre Zeit am Gymnasium: Das Humboldt-Gymnasium ist ein Ort, den man gerne als altehrwürdig bezeichnet. Die Schule versteht sich als liberal. „Bei Sarah hätte ich nie gedacht, dass so etwas passieren könnte“, sagt Schulleiter Jürgen Kaz im Gespräch mit dieser Zeitung. Dass sich Kinder in der Pubertät verändern, sich ausprobieren, provozieren, das sind die Lehrer gewohnt. Aber ein damals noch 15-jähriges Mädchen, das sich einer syrischen Miliz anschließt? Im Nachhinein wird so manches interpretiert, über das die Schule vor einem halben Jahr noch hinweggesehen hat. Dass Sarah sich zurückzieht. Ihr Gesicht verschleiern will. Mit schwarzen Handschuhen zum Unterricht erscheint. Dem Rektor nicht mehr die Hand gibt, weil er ein Mann ist.
„Wir haben mit Sarah immer offen darüber diskutiert, aber wir sahen das als pubertäre Entwicklung, die schon vorübergehen würde“, gibt Jürgen Kaz zu. Sarah sei aufgeschlossen und klug gewesen, gut in die Schulgemeinschaft integriert, sie habe mit den Lehrern diskutiert über ihre religiöse Einstellung. Ein Junge aus der 11. Klasse erinnert sich an die Mitschülerin. „Sie ist schon sehr aufgefallen“, sagt er. Vor allem, nachdem sie verschleiert in der Schule erschienen sei. Dann sei sie einfach verschwunden. Einer seiner Schulkameraden habe jedoch vor circa zwei Monaten verstörende Bilder von ihr erhalten. Auf diesen sei sie mit einer Maschinenpistole in der Hand zu sehen gewesen, erzählt er.
Ihre Spuren im Netz: Sarah selbst gibt keine Auskunft über ihre Motivation, doch das Mädchen hat überall im Netz seine digitalen Fingerabdrücke hinterlassen. Die Schülerin ist aktiv in den sozialen Netzwerken, postet Fotos von sich mit Waffen und in voller Verschleierung, erhebt sich zur Missionarin ihres Glaubens, als Arbeitgeber gibt sie „Allah“ an. „Und wenn unsere Löwen schlafen, tragen wir die Verantwortung für die Ummah!“, schreibt Sarah in ihrem Facebook-Profilbild. Löwen – das sind die kämpfenden muslimischen Männer, Ummah die islamische Gemeinschaft. Sie berichtet von ihrer Heirat mit dem aus Köln stammenden Ismail S. Die Facebook-Seite ist inzwischen blockiert.
Auf ihrer Google-Plus-Seite stammt der letzte Eintrag vom Januar 2013. Inzwischen scheint sich Sarah über andere virtuelle Kanäle auszutauschen, die weniger öffentlich einsehbar sind. Für den Verfassungsschutz steht fest: Das Internet ist inzwischen der größte Tummelplatz für Extremisten aller Richtungen – eine Propaganda-Plattform.
Doch was sagen all diese Postings, die Sprüche und Angeberposen aus über ein Mädchen in der Pubertät? Was ist Propaganda, die ihr zugeflüstert wird, was ist Tatsache? Wie wird sie zu der, die sie heute ist? Noch im Jahr 2008 spurtet sie mit Klassenkameradinnen beim Konstanzer Altstadtlauf über die Zielmarkierung, heute ist sie im Visier des Verfassungsschutzes und des Landeskriminalamtes, Kämpferin in der Nähe von Aleppo unterwegs.
Ihre Suche nach Identität: Wer sich bei Experten umhört, kann zumindest ein grobes Bild der Konstanzer Schülerin zeichnen. „Schauen Sie mal in die Vita des Mädchens“, rät die Islamismusexpertin Claudia Dantschke. „Das Mädchen ist bikulturell.“ Die Mutter der 16-Jährigen ist Deutsche, der Vater Algerier. Die Frage, wohin sie selbst gehört, muss Sarah beschäftigt haben. Im Internet schreibt Sarah, dass es für sie wie eine Befreiung ist, mit verschleiertem Gesicht auf die Straße zu können.
In der Moschee in Petershausen schüttelt man nur den Kopf, wenn die Rede auf die Schülerin kommt. Die Moschee gilt nicht gerade als Hort von Islamisten, ihre Vorsitzende Peyman Özen selbst trägt kein Kopftuch. Im vergangenen Jahr, da sei ihr Sarah aufgefallen, sagt Özen. Da fragte sie mit einer ganzen Gruppe von verschleierten Frauen nach einem Raum für regelmäßige Treffen. Was abgelehnt wurde.
Ihre Akte bei der Polizei: Bei der Konstanzer Polizei will man zunächst am liebsten gar nicht über den Fall sprechen. Der Aufenthaltsort des Mädchens sei bekannt, damit sei das Thema erledigt, heißt es. Doch ganz so einfach ist der Sachverhalt nicht, das muss schließlich auch der Polizeisprecher einräumen. Die Eltern halten die Vermisstenanzeige für ihre minderjährige Tochter aufrecht, der Fall liegt weiter bei den Ermittlern. Und die stehen vor einer schwierigen Aufgabe.
Die radikalisierte junge Frau beschäftigt die Behörde schon seit geraumer Zeit. Im Internet werden die Ermittler auf sie aufmerksam – doch zunächst sehen sie in dem damals noch 15-jährigen Mädchen ein Opfer. „Es hat geheißen, dass sie gegen ihren Willen in die Türkei gebracht werden soll“, erklärt Kripo-Sprecher Bernd Schmidt. „Und das wäre eine Straftat.“
Die Konstanzer Beamten gehen schließlich am 30. Oktober 2013 zur Wohnung von Familie O., wo sie nicht nur den verdutzten Vater, sondern auch Sarah treffen. Schon am nächsten Tag aber, an Allerheiligen, steht Mohammed O. in der Konstanzer Dienststelle und meldet sein Mädchen als vermisst. „Wir sind von einer Entführung ausgegangen und haben zunächst die Flugplätze überprüft“, sagt Schmidt.
Doch am Montag, es ist der 4. November, ruft Sarah bei ihrem Vater an, erzählt von ihren Plänen. An diesem Tag wird sie vom vermeintlichen Opfer zur mutmaßlichen Täterin. Ihr Handy wird in der Türkei geortet, später in der syrischen Stadt Aleppo. Die Türkei ist ein beliebtes Transitland für sogenannte Dschihad-Touristen, die Kontrollen an den Grenzen gelten als dünn.
Was Sarah in der Bürgerkriegsregion vorhat, wird spätestens dann deutlich, als erste Informationen von ihr nach Deutschland kommen. Über den Onlinedienst Viber schickt Sarah Bilder und Nachrichten an Freunde und Schulkameraden, manche der Fotos zeigen sie mit Waffe, weshalb die Kriminaler inzwischen vermuten, dass sie nicht nur moralische, sondern militante Unterstützung geben will.
Als Ausländer in einen Bürgerkrieg einzugreifen, zumal auf der Seite terroristischer Gruppierungen, ist streng verboten, in Deutschland wurden bereits mehrere Fälle verhandelt. „Wir müssen davon ausgehen, dass die Reise nach Syrien länger geplant war“, sagt Polizeisprecher Bernd Schmidt. Das Mädchen hat eine Einverständniserklärung der Eltern gefälscht, ein Ticket gebucht, Kontakte geknüpft.
Wie es zu der Radikalisierung kam, darüber kann man bei der Kriminalpolizei nur rätseln. „Eine Islamistenszene gibt es in Konstanz nicht“, sagt Schmidt. Er vermutet, ebenso wie das Landesamt für Verfassungsschutz, dass Sarah über das Internet mit Extremisten in Kontakt kam. Möglichkeiten, sie zurück nach Deutschland zu holen, sieht er nicht. Wer meint, Syrien sei sein letzter Halt auf dem Weg ins Paradies, der lässt sich nicht aufhalten. Schon gar nicht von der Konstanzer Polizei.