Im März 1945 – Hitler lebte und plante noch – kam der britische Schriftsteller George Orwell als Kriegsreporter in das schon befreite Köln. Und wunderte sich. „Ausgesprochen seltsam“ fand er die Erfahrung. „Man sieht sich umgeben von diesem Herrenvolk, das auf Fahrrädern seinen Weg zwischen den Trümmerhaufen sucht. Es ist schwer vorstellbar, dass es sich um die gleichen Menschen handelt, die gerade noch den europäischen Kontinent beherrschten.“ Sie seien auch wirklich nicht alle „hochgewachsen, blond und arrogant“. Insgesamt erschienen sie ihm „keineswegs besonders auffällig“.
Diese Verwunderung ist bis heute nicht abgeklungen. Noch immer beschäftigen sich Historiker auf der ganzen Welt mit der Frage, wie das deutsche „Kulturvolk“ sich den Nazis verschreiben, den schlimmsten aller Kriege vom Zaun brechen und einen Massenmord beispiellosen Ausmaßes verüben konnte. Und wie es dieselbe Nation dann fertigbrachte, zumindest im Westen des Landes innerhalb von einer Generation eine vorbildliche Demokratie aufzubauen. Antworten auf diese Frage können vielleicht auch eine Hilfestellung für Gesellschaften sein, die sich heute in einer Übergangsphase zwischen Diktatur und Demokratie befinden.
Es sei „eine merkwürdige Mischung“ von Gefühlen, mit der man als Deutscher heute auf das Kriegsende vor 70 Jahren zurückschaue, meint der Berliner Historiker Paul Nolte. Einerseits fallen viele Konstanten ins Auge, andererseits markiert das Jahr 1945 auch eine klare Zäsur. Die Zeitgenossen sprachen damals von der „Stunde null“ und meinten damit einen völligen Neuanfang, sowohl politisch wie wirtschaftlich. „Die Vorstellung eines absoluten Bruchs ohne Kontinuitäten erscheint heute geradezu abwegig“, sagt der Bochumer Historiker Constantin Goschler. „Man fragt heute eher: Warum sprach man nach dem Krieg von einer Stunde null?“ Das Personal in Wirtschaft, Justiz und teilweise sogar in der Politik war nach dem Krieg dasselbe wie vorher. Und wenn auch die Zentren vieler deutscher Städte in Trümmern lagen, so waren die Wirtschaftsbetriebe doch noch zu mehr als der Hälfte intakt.
Vieles ging also einfach weiter. Aber gleichzeitig veränderte sich Grundlegendes. Nolte hebt hervor: „Das nationalsozialistische Regime war mit einer Brutalität und Eindeutigkeit zu Ende, wie man es in der Geschichte selten erlebt hat. Viele haben das als Befreiung erlebt. Man kann wohl sagen, dass Erleichterung überwog.“ Was nicht bedeutet, dass die Kriegsgeneration fortan durch und durch demokratisch gewesen wäre. Nolte erinnert sich: „Bis in die 1980er Jahre konnte man ja von den Großeltern hören: ,Unter Hitler war nicht alles schlimm – wenn er nur nicht mit dem Krieg angefangen hätte!' Diese Form der Kontinuität blieb tatsächlich noch drei bis vier Jahrzehnte bestehen.“ Erst schrittweise wurden sich die Deutschen des vollen Umfangs von Holocaust und Völkermord bewusst. Ein erster Meilenstein waren die von Fritz Bauer initiierten Auschwitz-Prozesse Anfang der 60er Jahre. Dann kam die massive Kritik der 68er an der Generation ihrer Eltern. Eine kaum zu unterschätzende Wirkung auf die Masse der Bevölkerung hatte 1979 der amerikanische Fernsehvierteiler „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“. Aber es dauerte noch bis in die 90er Jahre, ehe sich die Erkenntnis durchsetzte, „dass wir den Krieg und das Geschehen des Holocausts zusammendenken müssen“, wie Nolte es ausdrückt.
Auch damit ist die Entwicklung nicht zu Ende. Goschler meint: „Was Historiker machen, ist ja letztlich immer, die Vergangenheit aus der jeweiligen Perspektive der Gegenwart zu betrachten. Und dadurch, dass sich die Gegenwart verändert, stellt man auch neue Fragen an die Vergangenheit.“
Die Art des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg ist von Nation zu Nation unterschiedlich. Manchmal hält es sogar Einzug in den ganz normalen Alltag. Das Bewusstsein für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und die Schuld des eigenen Landes ist in Deutschland groß. Doch wie sehr beschäftigt es noch die junge Generation anderer Länder?
In Polen, das so lange wie kein Land unter den Deutschen litt, ist die Geschichte des Weltkriegs auch für viele junge Menschen allgegenwärtig – nicht nur, weil überall Gedenktafeln an Besatzungsterror und Widerstand erinnern. Viele sind stolz, dass ihre Vorfahren – anders als in einigen anderen Ländern – nicht umfangreich mit den Deutschen kollaborierten und stattdessen eine Untergrundbewegung bildeten, die sowohl militärischen als auch zivilen Widerstand leistete. Das Museum des Warschauer Aufstands etwa hatte in den zehn Jahren seines Bestehens über 4,6 Millionen Besucher, das einstige NS-Todeslager Auschwitz-Birkenau hat sogar mehr als 1,5 Millionen jährlich, darunter viele polnische Schulklassen. In Danzig (Gdansk) entsteht derzeit ein neues Museum zum Zweiten Weltkrieg. Symbole aus der Zeit des Untergrundkampfes gegen die deutsche Besatzung haben Einzug in die Mode Jugendlicher gehalten: So tragen manche das historische Graffito-Kürzel PW für „Kämpfendes Polen“ auf dem T-Shirt, andere den Schriftzug „Warszawa 44“.
In Russland liegen beim Kriegsgedenken Stolz und Schmerz eng beisammen. Mit etwa 27 Millionen Toten erlitt die Sowjetunion 1941 bis 1945 so schwere Verluste wie kein anderes Land. Das Interesse der jüngeren Generation gilt als groß. Als einen Grund dafür sehen Soziologen, dass viele Kinder in Russland mit Geschichten über den Krieg aufwachsen. Schüler schreiben Aufsätze darüber und gedenken der Opfer mit Gedichten und Liedern. Der Tag des Sieges wird vielerorts mit Militärparaden gefeiert. Viele Menschen – auch Jugendliche – legen an den Denkmälern für die Vaterlandsverteidiger Blumen nieder.
Auch in Großbritannien ist der Zweite Weltkrieg nach wie vor Gesprächsthema. Die Briten leben ihre Siegermentalität, manche halten den Beitrag Großbritanniens und ihres Kriegs-Premiers Winston Churchill für entscheidend beim Sieg im Kampf gegen Nazi-Deutschland. Noch heute treffen sich Enthusiasten und stellen wichtige Schlachten des Zweiten Weltkriegs originalgetreu nach – die Teilnehmer schrecken dabei auch nicht vor dem Tragen von SS-Uniformen zurück. Insgesamt sind die Weltkriegsvergleiche in den Medien aber zurückgegangen. Überschriften zu Fußballspielen mit deutscher Beteiligung beinhalten nicht mehr automatisch das Wort „Tank“ (Panzer).
In den USA ist das Grauen des Zweiten Weltkriegs nicht vergessen. Bis heute wird die als D-Day bekannte Landung am 6. Juni 1944 in der Normandie, die für Zehntausende Soldaten den traumatischen Eintritt in einen verheerenden Krieg bedeutete, als Beginn der Befreiung Europas gefeiert. Die Teilnehmer gelten als die „größte Generation“, viele der noch lebenden gut 850 000 Veteranen werden in Veranstaltungen immer wieder geehrt.
Die Deutschen und der Zweite Weltkrieg
Der Zweite Weltkrieg beschäftigt die Deutschen auch nach sieben Jahrzehnten noch – nicht nur zu Gedenktagen und öffentlichen Veranstaltungen, sondern auch im privaten Rahmen. Das zeigt eine repräsentative Umfrage des YouGov-Instituts anlässlich des bevorstehenden 70. Jahrestags des Kriegsendes am 8. Mai.
Die Folgen des Krieges wirken nach Ansicht der großen Mehrheit der über 1000 Befragten bis heute fort: 81 Prozent sehen das internationale Agieren der Bundesrepublik noch immer auch durch die historische Vergangenheit im Zweiten Weltkrieg beeinflusst. Sie mögen da etwa an die Verpflichtungen Deutschlands gegenüber Israel gedacht haben oder auch an Besonderheiten des deutsch-polnischen und deutsch-französischen Verhältnisses oder an Sensibilitäten im Umgang mit Russland. Lediglich acht Prozent sehen Deutschlands internationales Auftreten in keinem Zusammenhang mit der Kriegsvergangenheit.
In der Umfrage messen ebenso viele dem Thema Zweiter Weltkrieg generell keinerlei Bedeutung mehr bei. Eine Mehrheit fühlt sich hingegen vom dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte nicht nur historisch betroffen, sondern auch emotional berührt: Mit 47 Prozent äußerte sich knapp die Hälfte der Befragten entsprechend. Für 40 Prozent ist das Thema zwar historisch von Bedeutung, aber nicht emotional.
Erörtert wird es gleichwohl auch im privaten Rahmen: Nur neun Prozent gaben an, in der Familie noch nie darüber gesprochen zu haben. 88 Prozent haben dagegen etwa das Schicksal der eigenen Vorfahren oder Fragen zur Historie des Krieges oder zur gesellschaftlichen Verantwortung für das Vergangene schon mal in der Familie erörtert. Die Hälfte der Befragten tut dies sogar immer mal wieder. In Ostdeutschland ist dies häufiger als im Westen der Fall: Dort sprechen 57 Prozent im privaten Rahmen häufiger über den Krieg; im Westen sind es 48 Prozent. In Westdeutschland ist wiederum der Anteil derer, für die das in der Familie früher mal ein Thema war, aber heute nicht mehr, mit 34 Prozent größer als im Osten mit 26 Prozent.
Die große Mehrheit fühlt sich durch Wissen über den Zweiten Weltkrieg für solche Gespräche gerüstet, 73 Prozent äußern sich entsprechend. Dabei offenbaren sich graduelle Unterschiede: So bescheinigen sich Westdeutsche etwas seltener als Ostdeutsche (71 zu 80 Prozent), über das Thema ausreichend informiert zu sein. Umgekehrt ist der Anteil derer, die bei sich Wissenslücken sehen, im Westen etwas größer (20 zu 13 Prozent). Dabei empfinden drei Viertel der Deutschen das Kriegsende als Befreiung. Zehn Prozent verneinen dies. Text: dpa