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KAIRO
„Ein Jahr lang war mein Leben dumpf und dunkel“
Von unserem Korrespondenten Martin Gehlen
 |  aktualisiert: 03.02.2016 16:44 Uhr

Ägypten sonnt sich wieder als Paradies der guten Laune. An jeder Ecke ist die Erleichterung mit Händen zu greifen. „Mursi – das war’s“, den Daumen runter und ein grinsendes, einvernehmliches Nicken. Egal ob Obsthändler, Zeitungsverkäufer, Taxifahrer oder Parkwächter – jeder vermittelt am Tag danach den Eindruck, das Volk Ägyptens habe sich mit viertägigen Massenprotesten von einer jahrzehntelangen, düsteren Diktatur befreit.

Stundenlang hatten Mittwochabend Hunderttausende auf dem Tahrir-Platz auf die erlösende Rede von Armeechef Abdel Fattah al-Sissi gewartet. Als der 58-jährige General schließlich vier Stunden nach Ende seines Ultimatums um exakt 21 Uhr vor die Kameras trat und seinem Landsleuten mit fester Stimme und in acht Minuten verlas, wohin die Reise geht, fiel der weltberühmte Kreisverkehr für einen Moment in eine nahezu atemlose Stille. Und kaum hatte der Oberbefehlshaber hinter dem Pult und in kurzärmeligem Hemd geendet, entluden sich Vuvuzelas, Trillerpfeifen, Autohupen und Sprechchöre in einem stundenlangen Massenrausch. „Es war ein Festival, wir sind so überglücklich, wir haben uns die Revolution zurückerkämpft“, schwärmt Alfred Adly Youman, der die ganze Nacht dabei war und auch am nächsten Tag noch immer kein Auge zutun kann. Mit etwas Wasser ins Gesicht habe er die Müdigkeit vertrieben, sagt er, und jetzt gehe es weiter. Keine Minute will er verpassen. „Ein Jahr lang war mein Leben dumpf und dunkel, weil Mursi den Christen ihre Rechte verweigert“, sagt der 62-Jährige, der in Giza ein kleines Fotostudio besitzt.

Über den Tahrir-Kreisverkehr dröhnen derweil patriotische Lieder, kein Militärfahrzeug ist weit und breit zu sehen. Stattdessen fegen Heerscharen von Müllmännern die Reste der patriotischen Superparty zusammen. Die meisten Geschäfte sind noch verrammelt, nur die Taxifahrer bahnen sich bereits wieder erste Schneisen durch den vier Tage lang total blockierten Platz. Die meisten aus der Jubelmenge aber sind irgendwann am frühen Morgen nach Hause gegangen und ins Bett. Nur das Frauenareal vor der Rednertribüne, von Helfern mit einem dicken Seil abgesperrt, erinnert daran, dass während der fröhlichen Megaproteste über hundert Frauen übel misshandelt, sexuell missbraucht und vergewaltigt wurden.

Mit Kreuz und Koran

Sayyed Ahmed Abdel Ali hat sich einen Modellpanzer auf den Kopf geschnallt in der linken Hand hält er ein Kreuz, in der rechten einen Koran – die neue Dreifaltigkeit Ägyptens. „Muslime, Christen und Armee gehen Hand in Hand“, ruft er aus, während über den Köpfen zur Unterhaltung der übrig gebliebenen Rebellen ein Formationsflug der ägyptischen Luftwaffe hinwegdonnert, Rauch in den rot-weiß-schwarzen Nationalfarben hinter sich herziehend.

Mansour Elleithy hat für solche Spektakel nur ein Schulterzucken übrig. Zusammen mit zwei Dutzend Mit-Professoren hält der 51-jährige Dozent für Physiotherapie seit vier Tagen auf dem Ennahda-Platz vor der Kairo Universität die Stellung. Die Zugänge zu dem Gelände der Muslimbrüder sind seit dem Vorabend durch Mannschaftstransporter und Jeeps abgeriegelt. Eine verbrannte Palme liegt quer über dem Asphalt. Zertrümmerte Werbetafeln zeugen noch von den schweren Ausschreitungen, als sich Bewaffnete durch den angrenzenden botanischen Garten anschlichen und das Mursi-Camp mitten in Kairo mit Sturmgewehren unter Feuer nahmen. 18 Menschen starben, über 200 wurden verletzt, den Überlebenden steht der Schock noch in den Gesichtern.

Säuberlich haben sie jetzt in langen Reihen Vorräte an Wurfsteinen aufgehäuft. Fast jeder Zweite hat neben sich einen Knüppel griffbereit. „Die Armee hat die Demokratie zerstört. Wir demonstrieren friedlich und werden bis zum Ende friedlich bleiben“, sagt Mansour Elleithy, während um ihn und seine Kollegen herum ein kleiner Protestzug im Kreise zieht und „Mursi, wir stehen hinter dir“ skandiert. Alle hier wissen, dass der abgesetzte Präsident und Dutzende aus der Führungsriege der Muslimbruderschaft bereits verhaftet worden sind, der eigene Fernsehkanal abgeschaltet ist. „Wir haben keine Angst, Gefängnisse sind nichts Neues für uns“, sagen sie.

 
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