Haben Sie etwa gedacht, wir wären nicht mehr da? Nur weil das Fernsehen nicht mehr über uns berichtet? Aber nein! Wir bleiben, bis sich etwas ändert.“ Simone Diraud, zarte Statur, ergrautes Haar, gelbe Warnweste über der dunklen Windjacke, steht an diesem Herbst-Samstag neben Mitstreitern vor dem Wirtschafts- und Finanzministerium in Paris und lächelt verschmitzt. „Für mich spielt es keine Rolle, ob wir 200 000 sind wie am Anfang, 200 oder 20.“ Auf den Rücken hat sich die 64-Jährige ein selbst gebasteltes Plakat mit Schlagworten geklebt, die sie wichtig findet. „Mindestlohn – Mehrheitswahlrecht – Anerkennung leerer Stimmzettel“, steht darauf. Und: „Was genug ist, ist genug.“
Sie sei gegen den entfesselten Kapitalismus und halte die französischen Politiker allesamt für „Verräter“, sagt die Rentnerin aus der Vorstadt Romainville, die früher als Zahnarzthelferin gearbeitet hat. Ihr sanftmütiges Lächeln scheint nicht so recht zu ihren wütenden Worten zu passen. „Ich bin hier, um zu zeigen, dass wir uns das Maul nicht stopfen lassen.“
Simone Diraud gehört zum verbliebenen harten Kern der französischen „Gelbwesten“-Bewegung, die vor einem Jahr begann und das Land vom Auftakt am 17. November an über mehrere Monate hinweg in Atem hielt. Bevor die Anhänger dazu übergingen, in den Städten zu demonstrieren, blockierten sie zunächst Kreisverkehre im ganzen Land. Sie protestierten gegen hohe Lebenshaltungskosten und vor allem gegen die steigenden Preise für Benzin und Diesel, welche die Bewohner der entlegenen Regionen besonders stark zu spüren bekommen, die auf ihr Auto angewiesen sind. Bald weitete sich die Bewegung, die sich ohne klaren Anführer und über Soziale Netzwerke organisierte, zu einem breiteren Widerstand gegen die Regierung und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron aus.
Die Forderungen waren disparat und reichten von der Einführung nationaler Volksabstimmungen über eine Rückkehr zur von Macron abgeschafften Reichensteuer bis zu Neuwahlen. Mehrmals kam es zu Ausschreitungen am Rande der Demonstrationen. Krawallmacher mischten sich unter die Teilnehmer, um Fensterscheiben einzuschlagen, Zeitungskioske oder Motorroller anzuzünden und sich brutale Kämpfe mit den Sicherheitskräften zu liefern, die scharf reagierten.
Die Regierung Macron musste Stück für Stück nachgeben
Angesichts der bisher größten Krise seiner Amtszeit musste der Staatschef stückweise nachgeben: Zuerst wurden die geplanten Kraftstofferhöhungen ausgesetzt, dann bot er weitere Zugeständnisse wie geringere Abgaben auf Renten bis 2000 Euro und eine indirekte Erhöhung des Mindestlohns an. Durch die Mehrkosten in Höhe von über zehn Milliarden Euro nahm Macron in Kauf, dass das Defizit höher ausfiel als gegenüber Brüssel versprochen. Schließlich ließ er Bürgerdebatten im ganzen Land organisieren – doch es beteiligten sich vor allem seine Anhänger daran, während sich die „Gelbwesten“ nicht vereinnahmen lassen wollten.
Jene, die am politischen System teilhaben wollten und bei den Europawahlen antraten, wurden heftig attackiert, wie die Krankenpflegerin Ingrid Levavasseur. Infolge des Drucks verzichtete die 32-Jährige auf eine Kandidatur und demonstriert auch nicht mehr. Bei den Gemeinderatswahlen im März tritt sie an, aber nicht unter dem Siegel der „Gelbwesten“. Wenn auch dezimiert, kommen diese weiter samstags zusammen. Halten Fahnen hoch mit Aufschriften wie „Die Hoffnung ist gelb“. Skandieren Reime wie „Macron, Démission!“ („Macron, Rücktritt!“) und pfeifen die Polizisten aus.
Die Zeit der Widerständler sei keineswegs vorbei, warnt der französische Geograf Christophe Guilluy: „Wir werden sie noch 100 Jahre lang haben.“ Denn die Ursachen des Problems liegen ihm zufolge tief. Beschrieben hat er sie bereits 2014 in seinem Buch „Das periphere Frankreich. Wie wir unsere Arbeiterklasse opfern“. Guilluy analysierte darin die zunehmende Entfremdung der Eliten aus Politik und Wirtschaft von der unteren Mittelschicht, die die Mehrheit stelle und doch unsichtbar sei – oder es zumindest bis zum 17. November 2018 war.
Demnach wächst die Kluft zwischen den Globalisierungsgewinnern und -verlierern, zwischen den Bewohnern der dynamischen Metropolregionen und jenen der entlegenen Orte, die wirtschaftlich und damit auch politisch, sozial und kulturell ausgegrenzt werden. Hier schließen Schulen, Krankenhäuser, öffentliche Dienste und Fabriken, was zu Massenarbeitslosigkeit und Armut führt – denn alternative Jobs gibt es kaum. Ein Umzug ist keine Option für jene, die in ihren eigenen, aber relativ wertlosen Häusern auf dem Land wohnen. In der Tat: Wer durch Frankreichs Dörfer fährt, begegnet oft keiner Menschenseele, sieht geschlossene Geschäfte und Fensterläden. Die Zentren kleiner Städte veröden. Den Sockel einer Gesellschaft derart auszuhöhlen sei gefährlich, warnt Guilluy.
Der 55-Jährige gilt als untypischer Forscher. Anders als die meisten französischen Intellektuellen, die die öffentlichen Debatten bestimmen, kommt er nicht aus einem großbürgerlichen Milieu, sondern aus dem Pariser Vorort Montreuil, der heute angesagt ist, aber lange als verrufen galt. So erscheint Guilluy als legitimer Fürsprecher der Ausgegrenzten, der nicht nur den aufkommenden Protest kommen sah, sondern auch die Erosion des politischen Systems und den Niedergang der einstigen Volksparteien. Anstelle des Zweikampfs zwischen Sozialisten und Republikanern haben sich zwei neue Gegenpole gebildet, repräsentiert von Macron auf der einen und der Rechtspopulistin Marine Le Pen auf der anderen Seite: Hier das „Frankreich der Metropolen“, das liberal denkt und für grenzenlose Mobilität eintritt – dort das „periphere Frankreich“, das auf Protektionismus und den Erhalt eines starken, schützenden Staates setzt.
Die Angst vor dem sozialen Abstieg ist das Motiv der Demonstranten
Dessen Vertreter seien die „Gelbwesten“, so Guilluy: Arbeiter, Angestellte oder kleine Selbstständige, die den sozialen Abstieg fürchten. In den Demonstrationszügen sind auch viele Rentner zu sehen, darunter Josiane Rivet, die seit einem Jahr kaum einen Protest-Samstag ausließ. 42 Jahre lang habe sie für ein Versicherungsunternehmen gearbeitet, sagt sie – um heute eine Mini-Pension zu erhalten. „Seit 2013 stiegen die Renten nicht mehr an, während sich die Reichen alles in die Taschen stecken“, klagt sie. „Wir werden ausgepresst wie die Zitronen! Und deshalb tragen wir gelb.“
Inzwischen veröffentlichte Guilluy ein weiteres Buch zum Thema mit dem englischen Titel „No Society“ („Keine Gesellschaft“) nach einem Ausspruch der früheren britischen Premierministerin Margaret Thatcher. Seine These: Eine Gesellschaft, die ihre untere Mittelschicht an die Ränder drängt, zerbricht – eine Entwicklung, die nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa stattfinde. „Die ,Gelbwesten‘ wollen wirtschaftlich integriert sein“, so Guilluy. „Sie wollen Arbeit, ein iPhone und ein Netflix-Abo.“ Um gehört und gesehen zu werden, drängten sie von der Peripherie in die Metropolen, vor allem in Frankreichs Machtzentrum Paris. Ihre Demonstrationen meldeten sie nicht an: Sie kamen ungefragt.
Doch hat man ihnen dort wirklich zugehört? Priscillia Ludosky, die durch einen Protestaufruf in den Sozialen Netzwerken zu den Mitbegründern und einer der bekanntesten Figuren der „Gelbwesten“-Bewegung wurde, klingt heute enttäuscht: „Ich würde nicht sagen, dass es ein Erfolg war, aber es hat vieles geändert“, sagt die 34-Jährige. „Eine große Bewegung der Solidarität entstand, die es so vorher nicht gab, weil wir zu sehr in unseren Alltagsproblemen gefangen waren.“ Es köchele im ganzen Land weiter. Ab 5. Dezember könnten die „Gelbwesten“ sich mit den Gewerkschaften der Eisenbahner zusammentun. Diese planen massive Streiks im Widerstand gegen die geplanten Reform der Arbeitslosen- und der Rentenversicherung. Für ihre Kritiker führt diese genau in die Richtung, die die „Gelbwesten“ anprangern: immer mehr Sozialabbau und Härten für die kleinen Leute.
Die Regierung könne sich also noch auf etwas gefasst machen, sagt Andreu Sole, der seit Monaten samstags in gelber Warnweste demonstriert: „Wir verhandeln nicht, solange es zu viele Arme und Arbeitslose in diesem Land gibt.“ Er wolle verhindern, dass seine Kinder und Enkel zu „moderne Sklaven“ würden, die zwar einen Fernseher hätten, aber keinen festen Vertrag und keine echte Perspektive, sagt der 67-jährige Soziologe im Ruhestand. Er klingt so entschlossen wie Josiane Rivet, Simone Diraud und die anderen samstäglichen Mitstreiter. „Es gibt Sprinter und Marathonläufer“, sagt Sole. „Und das hier ist ein Marathon.“ Den wolle er weiterlaufen und wenn es sein muss, bis zum Umfallen.