
Stück für Stück haben die Berliner ihre Mauer abgetragen. Erst die Steine, dann – so gut es ging – die menschlichen Barrieren, um schließlich Fragmente zurückzulassen oder wieder aufzustellen.
Erinnerungspflege. Denk- und Mahnmale stehen heute dort, wo sich in einer Nacht von Donnerstag auf Freitag Ost und West in den Armen lagen, am Schicksalstag der Deutschen: am 9. November 1989. Was einst Familien und Freunde getrennt hat, führt heute die ganze Welt im geeinten Berlin zusammen. Touristen strömen entlang der alten Grenze. Die eine oder andere Berliner Schnauze schimpft, dass ihr die Mauer lieber gewesen sei. Aber in die Zeit vor 1990 wollen tatsächlich nur noch Ewiggestrige zurück.
Die Berliner Mauergeschichte pendelt zwischen zahlreichen Polen. Da gibt es die seriöse Erinnerungs- und Mahnkultur (wie die Gedenkstätte Berliner Mauer, Hohenschönhausen, Marienfelde), die Popkultur und Kunst der bunten Steine (East Side Gallery), aber auch den Wunsch vieler Investoren, durch die Mauer – oder besser gesagt: durch die Touristen – Geld zu erwirtschaften. Was bedeutet Spaßtouren im Trabi oder zweifelhafte Ostalgie-Museen.
Doch wo ist die Mauer in Berlin überhaupt noch zu sehen? Die Suche nach den Bruchstücken beginnt auf dem Rad. Der Mauer-Radweg führt einmal rund um die ehemalige Weststadt. 14 Kilometer fahren wir an diesem Tag und beginnen exakt dort, wo das Mauerwerk seine ersten symbolischen Risse erhalten hat.
Symbolträchtiger Start
Es geht über die geschichtsträchtige Bösebrücke, an der vor allen anderen Grenzübergängen sich die DDR-Bürger Reisefreiheit erkämpften, wo der Grat zwischen Schießbefehl und Mauerfall für kurze Zeit schmaler war als die Kimme an den Gewehren der Grenzsoldaten.
Fahrrad-Guide André Franke erzählt von der Ventillösung der DDR, die damals den besonders lauten und aggressiven Demonstranten den Vortritt für den Grenzgang ließ. Der Platz sei nach dem Mauerfall lange unberührt geblieben. Früher sei er mit seiner Gruppe direkt über die große Brachfläche an der Bornholmer Straße gefahren, erzählt Franke. Heute steht dort ein Lidl.
Heute ist auch jener Notizzettel wieder aufgetaucht, mit dem das SED-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski in seiner legendären Pressekonferenz in Berlin am 9. November 1989 den Weg in den Westen frei machte. „Verlesen Text Reiseregelung“ steht darauf.
Die Reisen in den Westen sollten vielleicht zu Weihnachten beginnen, aber nicht noch in derselben Nacht. Das aber war Schabowski entgangen, weil er bei der Besprechung gar nicht dabei gewesen war. Und so antwortete er an diesem Abend auf die Frage eines Journalisten, ab wann die neue Regelung denn gelte: „Das trifft . . . nach meiner Kenntnis . . . ist das sofort, unverzüglich.“ Dies führte binnen weniger Stunden zum Fall der Berliner Mauer. Und diesen lange verschwundenen Zettel kann man jetzt anschauen – in der alten Hauptstadt Bonn im Haus der Geschichte. Zu weit für einen Abstecher während der Mauer-Radtour. Ein anderes Mal also.
Er sei kein Mauerkind. Das sagt Touristen-Guide Franke, bevor er aufs Rad steigt. Die Mauer fiel, als er 13 war und zu dieser Zeit wohnte er ein ganzes Stück südlich von Berlin. Seit Ende der 90er Jahre lebt der studierte Stadtplaner hier, seit mehreren Jahren fährt er für „Berlin on bike“ Touren.
Die Tour „Berliner Mauer“ führt von der Bornholmer Straße bis ins Regierungsviertel. Nur von „Mauer“ zu sprechen sei eigentlich falsch, sagt Franke. Der Volksmund vereinfacht. Und selbst zu DDR-Zeiten trugen die Bauten um den Todesstreifen bereits zwei Namen: Vom „antifaschistischen Schutzwall“ war im Osten die Rede, von „Schandmauer“ sprach man im Westen ganz offiziell bis Ende der 60er Jahre.
Die Tour fährt einen kleinen Teil der früheren Grenze in der Innenstadt entlang, die in ihren einzelnen Bauphasen schlussendlich auf einer Länge von 160 Kilometern West-Berlin nach innen hin abschirmte, von mehr als 300 Grenztürmen und mindestens 2300 Soldaten rund um die Uhr bewacht. 186 Menschen zählen die Todeslisten der Maueropfer. Die Dunkelziffer geht von weit mehr als 200 in der Zeit von 1961 bis 1989 aus.
Die Tour bewegt sich auf beiden Seiten der ehemals geteilten Stadt. Die Radler wechseln von Ost nach West, dass bald nicht mehr klar ist, auf welcher Seite sie fahren. Nur nach der Sonne richten, funktioniert nicht. In der Stadtmitte schlägt die Mauer Haken und Ecken und teilt sich zwischen Hinterland- und Vorderlandmauer auf. Lediglich in die Straße eingelassene Pflastersteine markieren den Verlauf.
Gedenkstätte Bernauer Straße
Das eigentliche Zentrum der Erinnerungskultur führt entlang der Bernauer Straße, entlang des alten Kolonnenpfades mitten im Todesstreifen. Mauerteile, Mahnmale, Kapelle und Erinnerungsstücke reihen sich an den Weg. Etwa 850 000 Besucher zählte die Gedenkstätte im Jahr 2013.
Vor allem zwei Mauerereignisse sind seit mehr als einem halben Jahrhundert im kollektiven Gedächtnis verzeichnet: Ida Siekmann, die am 22. August 1961 aus ihrem Fenster sprang um auf die Nordseite der Straße und damit in den Westen zu flüchten. Sie starb bei dem Versuch und zählt seitdem als erstes Opfer der Berliner Mauer.
Und Conrad Schumann, der während des Mauerbaus zum Sprung über den Stacheldraht ansetzt. Sein Bild steht wie kein anderes für die Flucht von Ost nach West. Auch wenn seitdem Gerüchte im Raum stehen, die Fotografen hätten Schumann Geld für den Sprung gezahlt.
Weiter durch die Stadt, durch ein Birkenwäldchen und den Spreekanal entlang bis zum Humboldthafen: Inmitten von Wohnhäusern am Kieler Eck steht ein alter DDR-Wachturm. Jürgen Litfin hat darin die wahrscheinlich persönlichste Gedenkstätte Berlins errichtet: Sie trägt den Namen seines Bruders, Günter Litfin, den ein DDR-Grenzsoldat beim Versuch, schwimmend über den Kanal das rettende Westufer zu erreichen, erschoss.
„Ermordet“, sagt Jürgen Litfin. Seit Jahren schwelt in ihm die Wut, dass der Grenzsoldat wegen „Totschlags in einem minderschweren Fall“ eine Bewährungsstrafe erhielt. Seitdem hat er viele Kämpfe ausgetragen: gegen die DDR-Behörden, die ihn wegen Beihilfe einsperrten. Gegen den bayerischen Investor, der den Turm abreißen wollte, um einen Wohnblock zu errichten.
Gegen die Stadt, die ohne sein Wissen den Gedenkstein seines Bruders beim Bau des Hauptbahnhofs an den Checkpoint Charlie umsetzen ließ. Fünf Jahre später fand Litfin ihn durch Zufall. In allen Belangen authentisch verurteilt sein Turm die Verbrechen des DDR-Regimes.
Im Regierungsviertel
Unweit des Turms ruht der von Mauerresten geteilte Invalidenfriedhof. Ob die Grabsteine dort stehen, wo die Alt-Militärs auch begraben liegen, wisse niemand mehr, sagt Fahrrad-Guide Franke, bevor er weiter Richtung Regierungsviertel fährt. Dort, an den Spreebögen, zwischen Reichstag und Regierungsgebäuden haben Architekten das „Band des Bundes“ entworfen. Vom Ost- zum Westufer führen Brücken und Tunnel von Bau zu Bau. Genau dort scheint die geteilte Vergangenheit zu enden und die gemeinsame Zukunft zu beginnen. Mit DPA