Manfred Weber brauchte an diesem Mittwochmittag nur fünf Minuten und zwei Sekunden, um eine neue Welt zu betreten. Sicher, der 46-jährige CSU-Politiker gilt seit vier Jahren als einer der einflussreichsten Männer der Union. Immerhin sitzt er schon so lange der mächtigen christdemokratischen EVP-Fraktion im Europäischen Parlament vor: 216 Alpha-Tiere aus 28 Mitgliedstaaten, die muss man bändigen können.
Doch an diesem Tag warf er den Hut in den Ring, um als Spitzenkandidat seiner Parteienfamilie, zu der auch CDU und CSU gehören, bei der Europawahl 2019 ins Rennen zu gehen. Und da er sie auch gewinnen dürfte, setzte er gleich hinzu: „Ich bewerbe mich damit auch um das Amt des nächsten Kommissionspräsidenten.“ Es ist der machtvollste Job, den Europa zu vergeben hat. Chef einer Behörde, die gegen Monopole kämpft, den Binnenmarkt verteidigt, künftig eine gemeinsame Sicherheitspolitik betreibt – und deren Präsident auch schon Mal ins Weiße Haus reisen muss, um Donald Trump in Sachen Handelskrieg den Schneid abzukaufen. „Ich habe mich gefragt: Kann ich diese Herausforderung bestehen?“, sagte er. Seine Antwort: „Ja. Ja, ich bin bereit.“
Der – respektvoll gemeint – glanzlose Auftritt ist so typisch für den Mann aus Niederbayern, den lange niemand auf der Rechnung hatte, bis er sich aus den Niederungen der europäischen Innenpolitik an die Spitze der größten Parlamentsfraktion hochgearbeitet hatte. „Ich möchte Europa den Menschen zurückgeben“, sagte er am Mittwoch. „Die EU steht an einem Wendepunkt – sie wird von außen attackiert und von innen durch radikale Kräfte auf die Probe gestellt.“ Das war sicher kein rhetorisches Feuerwerk, obwohl Weber das durchaus zünden kann. Aber er ist eher ein Mann der leiseren Töne. Seitdem er 2008 zum Chef des einflussreichen CSU-Bezirks Niederbayern gewählt wurde, baute er seine Machtbasis still und manchmal klammheimlich aus.
Nach dem Fachabitur diente Weber zunächst bei der Panzerjägerkompanie 560 im oberbayerischen Neuburg an der Donau. Noch bevor er die politische Leiter emporklomm, gründete er mit Freunden zwei Unternehmen im Bereich Umwelt-, Qualitätsmanagement und Arbeitssicherheit, in denen er auch heute noch tätig ist. Im Kreistag begann er, wechselte in den Landtag und dann schließlich 2004 in das Europäische Parlament.
Weber ist ein Wertkonservativer im besten Sinne des Wortes. „Der sonntägliche Gottesdienstbesuch ist für mich unverzichtbar“, schreibt er im Internet. Mit Genuss erzählen Kollegen, dass Weber – im Unterschied zu früheren CSU-Spitzenvertretern – weder Latein beherrscht noch Schafkopf spielen kann. Dafür gilt er als bekennender Fan des FC Bayern München. Ein Mann auf der Siegerseite also?
Danach sieht es inzwischen aus. Wochenlang hat Weber überlegt, ob er wirklich den Schritt wagen soll. Begleiter wiesen immer wieder darauf hin, dass er ohne den „Segen der Kanzlerin“ nicht vorpreschen werde. Den hat er nun bekommen, und am Dienstagabend stimmte auch die CSU-Parteispitze zu. Doch der Weg ist lang und hindernisreich.
In den kommenden Wochen muss Weber die Delegierten für den Parteitag der europäischen Christdemokraten Anfang November hinter sich bringen. Gegenkandidaten sind bisher nicht in Sicht, obwohl Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier aus Frankreich Ambitionen nachgesagt werden. Und auch der finnische Ministerpräsident Alexander Stubb überlegt offenbar noch. Aber beide gelten innerhalb der EVP nicht als mehrheitsfähig. Sollte Weber zum Spitzenkandidaten gekürt werden, kann er mit einer Mehrheit bei der Europawahl rechnen.
Doch dann folgen viele Fragezeichen. Nicht einmal die Bundeskanzlerin gilt als Befürworterin des sogenannten Spitzenkandidaten-Prozesses, der die Staats- und Regierungschefs regelrecht zu Statisten der Entscheidung über den wichtigsten EU-Job macht. Merkel wird sich auch deshalb noch nicht festlegen, weil Mitte nächsten Jahres ein ganzes Paket an Spitzenjobs besetzt werden muss: Neben dem Kommissionspräsidenten braucht die EU auch einen neuen Vorsitzenden des Europäischen Rates, einen neuen Parlamentschef, eine neue Hohe Beauftragte für die Außen- und Sicherheitspolitik und einen neuen Mann an der Spitze der Europäischen Zentralbank. Weber wäre zwar als erster deutscher Kommissionspräsident seit Walter Hallstein in den 1960er Jahren gesetzt, aber solche Personalpakete bestehen aus Kompromissen innerhalb der Parteienfamilien – auch wenn niemand ernsthaft damit rechnet, dass die Staatenlenker eine Mehrheitsentscheidung der Wähler übergehen können. Dennoch weiß er, dass er von jetzt an unter verschärfter Beobachtung steht. Ein Selbstläufer wird seine Kandidatur nicht.