
Der Weg zu Sergiy beginnt im Aquarium. Ein Wellblechhangar, den Kalaschnikow- und MG-Salven durchsiebt haben. Kein Quadratmeter ist ohne Einschüsse. Jetzt fallen durch sie Lichtstrahlen in das Halbdunkel der Halle. Einige Soldaten sehen in den Lichtern kleine Fische. Es könnten auch Sterne in einem Planetarium sein. Es ist eine unwirkliche, gespenstische Kulisse. Dazu passen die Salven, die aus sicherer Entfernung herüberhallen. Was hinter dem Hangar beginnt, sieht aus, als sei es der Fantasie eines Entwicklers für Ego-Shooter-Spiele entsprungen. Schützengräben, durch Erdreich und Stein gehackt. Tote Bäume, die wie Finger in den kalten Himmel ragen. Verbogener Stahl und geborstene Betonpfeiler, eingestürzte Bauten. Das ist Promka, einstige Industriezone von Avdiivka.
Im vergangenen Winter ging es in Promka hoch her. Beide Seiten – hier kämpfen von Russland unterstützte Separatisten gegen ukrainische Truppen – versuchten, Gelände zu gewinnen. Das Industrieviertel schiebt sich in Richtung des nahen Donezk, eine Straße zur Großstadt führt vorbei. Zwei strategische Gründe, für die Soldaten sterben. Die Kampflinien scheinen eingefroren, in den Ruinen an der Frontlinie haben sich die Kämpfer verbarrikadiert und eingegraben.
Geschossen wird noch immer, trotz vereinbarten Waffenstillstands. Auch heute bleibt es nicht ruhig. Als Maschinengewehre bellen, spurten die beiden Journalisten eines ukrainischen Fernsehsenders und der Offizier vom Pressestab los bis zur nächsten sicheren Mauer. Dann hinein in den nächsten Graben, Kopf nach unten, wenn die Deckung nicht ausreicht. Links vorbei an einem Stahlgerippe, schwarze Fensterhöhlen glotzen aus rissigem Mauerwerk. Ein kurzer Anlauf, und es folgt der Sprung hinein in die nächste Ruine.
In einer wartet Sergiy mit seinen Männern. Es ist der letzte Posten, bevor Feindesland beginnt. Die Männer haben Sandsäcke und Balken bis zur Decke aufgetürmt. Drei, vier Schießscharten sind ausgespart, davor liegen die Maschinengewehre griffbereit. Und die Schaufensterpuppe ohne Unterleib. Sie ist ein Test-Dummie, ob auf der anderen Seite Scharfschützen auf der Pirsch sind. Die Puppe hat schon einiges abbekommen. Sergiy nimmt sie fast zärtlich kurz in den Arm. Er erzählt, wie sie Leben schützt, mit ihrer Silhouette den Feind überlistet.
Gerät man als junger Soldat an einen Anführer wie den Unteroffizier, hat man zumindest Glück im Unglück des Frontlebens. Sergiy ist gut ausgebildet und erfahren: Jahrelang diente er in Spezialtruppen. Im Kosovo war er auch schon im Einsatz. 1999, nach Abzug der damaligen jugoslawischen Sicherheitskräfte, sicherte er einen wackeligen Frieden. Sergiy war danach längst im zivilen Leben angekommen. Er gründete eine Familie. Das kleine Geschäft warf genug zum Leben ab. Dann, als im Jahr 2014 im Osten der Ukraine der Konflikt aufflammte, meldete er sich nach Jahren wieder freiwillig zur Armee. Seitdem kämpft er an der ersten Linie.
„Ich bin gut ausgebildet, da war es meine Pflicht“, meint der Soldat knapp. An gut ausgebildeten Soldaten gab es 2014 einen Mangel in der ukrainischen Armee. Ein Mangel, der nicht behoben ist. Die Armee bräuchte mehr Freiwillige, als sich melden. „Ich verlängere, bis die Aufgabe erledigt ist“, sagt er deshalb. Bereits fünf Mal hat er das getan. Es fällt ihm immer schwerer. Der 41-Jährige hat klare blaue Augen, die erschreckend müde sind. Seine Frau und zwei kleine Kinder warten zu Hause. Sergiy versucht zu beschreiben, wie sehr er sie vermisst – und bricht traurig ab.
Er ist kein Mann großer Worte. Alles versucht er, so rational und militärisch knapp zu erklären wie möglich. Keine Propaganda-Hülsen, keine Hasstiraden auf die andere Seite.
Fast könnte man vergessen, dass in der Promka der Wahnsinn herrscht. Fast. Sergiy erzählt von einem Soldaten seines Platoons, den er vor kurzem verloren hat. „Es war ein feiner Kamerad“, sagt der 41-Jährige. Dann schweigt er. „Meine Seele fühlt sich leer an“, sagt der Soldat plötzlich. Frieden? Vielleicht hat Sergiy Angst davor, dass er den Frieden für sich selbst nicht mehr finden kann. Dass er den eigenen Kindern fremd wird, seiner Frau und sich selbst. In all den Jahren an der Front, in der Hoffnungslosigkeit der Promka.
Zehn Kilometer entfernt: Als die Salve kracht, blickt Stanislav kaum auf. Erst als die zweite und dritte folgt, greift sein Kamerad zum Fernglas. Stanislav läuft durch den Graben zum MG-Stand. Unter seinen Füßen knirschen Sand, Steine und Patronenhülsen. Ein viertes Mal hallen die Schüsse in den Schützengraben der ukrainischen Soldaten. Der 21-Jährige zielt in Richtung Wald. Dort vermutet er die Separatisten. Es bleibt still und der junge Leutnant atmet auf.
Stanislav ist der Jüngste in seiner kleinen Einheit. Oft nicht halb so alt wie die Männer, für die er verantwortlich zeichnet. Das sind erfahrene Hasen mit der Kippe im Mund. Und er? Frischgebacken von der Offiziersschule in Odessa. Immerhin, in den ersten Monaten konnte er schon einigen Respekt gewinnen. Gemeinsam haben sie Schützengräben ausgehoben. Er und seine Soldaten, zwei Monate lang. „Das war eine Plackerei. Handarbeit ohne jede Maschine“, Stanislav lacht leise.
Gut zehn Kilometer Luftlinie liegt zwischen seiner Stellung und Promka. Stanislav wünscht sich vermutlich, er könnte so ein erfahrener Anführer wie Sergiy sein. „Mein größter Wunsch ist, dass alle meine Männer lebend und gesund von ihrem Dienst heimkehren“, sagt er. Ein falscher Befehl, eine falsche Entscheidung, eine falsche Einschätzung kann das Leben seiner Leute bedeuten. Dessen ist sich Stanislav bewusst. Es ist ein Druck, der schwer, manchmal unerträglich schwer, auf dem jungen Mann lastet.
Stanislav spricht leise. Ein höflicher Mann, zurückhaltend, fast ein wenig schüchtern. In seiner Stimme schwingt immer ein wenig Sorge mit. Zu Hause spricht er mit seinen Kumpels über Fußball, hört sich die Klassiker von den Scorpions an. Zu Hause geht das Leben weiter, als würde es sie nicht geben, die endlos langen Schützengräben, den nächtlichen Beschuss. Die Toten und Verwundeten. „Es schmerzt mich schon, wenn ich mitbekomme, wie wenig das viele unserer Menschen zu interessieren scheint“, meint der junge Offizier. Er will nicht, dass er zu Hause als Held gefeiert wird. Selbst den Mangel an Freiwilligen kritisiert er nicht. „Jeder muss die Entscheidung für sich selbst treffen“, sagt er. Aber Respekt für die Frontsoldaten, für die Zivilsten, die unter den Folgen des Konflikts leiden, den fordert er ein.
Stanislav ging freiwillig zur Armee, er kommt aus einer Militärfamilie. Seine Mutter hat geweint, als er ging. Stanislav will Soldat bleiben. Auch wenn irgendwann endlich der Konflikt beendet sein sollte. In zehn Jahren will er ein Bataillon kommandieren. „Hoffentlich hat meine Heimat dann Frieden gefunden“, sagt der 21-Jährige. Dann geht es zurück von der ersten Linie zum Lager. Durch verschlungene Gräben unter Mauern hindurch. Im Keller eines verlassenen Hauses haben sie sich eingerichtet, Hochbetten zusammengezimmert. In der Mitte bullert ein Kanonenofen. Ein Kamerad hat einen Borschtsch aufgesetzt. Bald wird die Dunkelheit kommen und meist auch irgendwann in der Nacht der Beschuss. Dann werden sie wieder durch die Gräben zur ersten Linie laufen. Stanislav wird hoffen, dass es niemanden erwischt: „Ich habe so viel Glück gehabt bisher. Alle meine Männer sind unverletzt. Dafür bin ich dankbar.“