Viele Schriftsteller haben versucht, der Trauer Worte zu geben. Friedrich Rückerts „Kindertodtenlieder“ zählen zu den bedeutendsten und ergreifendsten Dokumenten der literarischen Auseinandersetzung mit dem Schmerz des Verlusts. Der Dichter und Gelehrte, der 1788 in Schweinfurt geboren wurde und vor 150 Jahren, am 31. Januar 1866, in Neuses bei Coburg starb, verlor im Winter 1833/34 seine beiden jüngsten Kinder durch Scharlachfieber. Die kleine Luise starb an Silvester im Alter von drei Jahren, der fünfjährige Ernst zwei Wochen später.
Der Tod eines Kindes ist das Unerwartete. Wenn ein Kind stirbt, scheint die natürliche Ordnung der Dinge auf den Kopf gestellt. Der Tod ist dann noch schwerer zu begreifen, die Trauer wird übermächtig. Als Dichter versuchte Rückert, seinem Unglück schreibend etwas entgegenzusetzen, seiner Klage durch seine Gedichte Form und Ausdruck zu geben und die innige Verbindung zu seinen toten Kindern auf diese Weise aufrechtzuerhalten. Von Januar 1834 an bis in den Sommer hinein schrieb er Gedichte über seine Kinder, über ihr Leben, ihren Tod und seine Trauer – manchmal drei oder vier am Tag.
Mehr als 400 Gedichte umfasst Rückerts in dieser Zeit entstandene Sammlung der „Kindertodtenlieder“. Der Schriftsteller Hans Wollschläger hat sie in einem Vortrag, den er 1988 im Alten Rathaus in Schweinfurt hielt, als „Verlustmeldung und Todesanzeige von gewaltigster Dimension“, als „größte Totenklage der Weltliteratur“ charakterisiert. Der Vortrag wurde als Einleitung in der von Wollschläger herausgegebenen Ausgabe der „Kindertodtenlieder“ (Greno Verlag 1988, Taschenbuchausgabe Insel Verlag 1993) abgedruckt.
Mit den Kindern begrub Rückert auch seine Lebensfreude: „Sie haben das Herz aus der Brust mir genommen / Und habens gelegt in ein Grab; / Das Leben, es ist mir abhanden gekommen, / Es ist mir gegangen hinab.“ Sein tiefer Schmerz mischt sich mit Verwunderung darüber, wie schnell sich Licht in Dunkelheit verkehren kann: „Kummer, Traurigkeit und Klagen / Die ich immer abgewiesen / Oh wie habt ihr aufgeschlagen / Euer dunkles Zelt in diesen / Heitern Paradiesen.“ Auch der Verwunderung darüber, an diesem Schmerz nicht völlig zu zerbrechen, gibt Rückert Ausdruck in den Zeilen: „Unglaublich, wie erträgt ein Herz, / Was schon zu denken unerträglich!“
Im Herbst 1833 hatte der Maler Carl Barth die kleine Luise und den kleinen Ernst im Bild festgehalten. Drei Monate später waren die beiden Kinder tot. Rückert hing sehr an den Bildern, weil sie ihm ein Stück der Lebendigkeit seiner Kinder bewahrten. Sie hingen in Erlangen über seinem Schreibtisch, er nahm sie mit nach Berlin, wo er ebenfalls eine Professur innehatte, und sie begleiteten ihn bis an sein Lebensende in Neuses bei Coburg, wo die Bilder in seinem Arbeitszimmer hingen. Es sei ihm zum Troste nichts geblieben als die Bilder von Carl Barth „und eine unsägliche Masse von Todtenliedern“, schrieb Rückert 1834 an einen Freund.
Die „Kindertodtenlieder“ führten den Dichter nicht nur durch die verwüsteten Landschaften seiner eigenen Seele. Sie waren nicht nur Echo seines Schmerzes – sie waren auch sein Trost. Das besondere Leid, das Eltern widerfährt, die ein Kind zu Grabe tragen müssen, die Klage über die „als Blüten früh Entschwebten“, die „zwei kleinsten, die zwei feinsten“, verschafft sich immer wieder Gehör.
Rückert musste Abschied nehmen, aber er ließ sich seine Kinder dennoch nicht wegnehmen, sondern wies ihnen in seinen Gedichten einen neuen Platz im Leben zu: „Nein, ich hab‘ es mir geschworen / Euer Leben fortzudichten, / Dass mir nichts es kann vernichten.“
Rückert hat die „Kindertodtenlieder“, diese sehr private Auseinandersetzung mit seiner Trauer, nicht veröffentlicht. Sie wurden erst im Jahr 1872, sechs Jahre nach seinem Tod, aus dem Nachlass herausgegeben. Die Gedichte schrieb Rückert, der zum Zeitpunkt des Todes von Ernst und Luise 45 Jahre alt war, in erster Linie für sich und seine Frau, aber eben auch für seine beiden toten Kinder, die er immer wieder persönlich anspricht, als könnten sie ihn noch hören: „Du warest klein, und kleine Blumen schling‘ ich / Zum Kranze Dir, und kleine Lieder sing‘ ich / So kleine Gaben großer Liebe bring‘ ich.“
Manchmal erinnern die Gedichte deshalb auch an Wiegenlieder für die „Kleingebliebenen“: kleine Verse von großer Ausdruckskraft, die zwar den Schrecken des Todes zum Thema haben, aber dennoch von einer geradezu spürbaren Zärtlichkeit geprägt sind. Beweise einer Liebe, die tiefe Wurzeln geschlagen hat, und die auch nach dem Tod ihr Ziel weiter sucht und findet, etwa in den Versen: „Des verstorbnen Töchterchens / Bild in meinem Zimmer, / Frische Blumen aus dem Wald / Holend, schmück‘ ich?s immer.“
Rückerts „Kindertodtenlieder“ sind der vielleicht ergreifendste literarische Ausdruck der Trauer. Dennoch sind die Gedichte meist nur Literaturwissenschaftlern oder, aufgrund der Vertonung einiger weniger Lieder durch Gustav Mahler, Musikliebhabern bekannt. Doch eigentlich gehören sie in die Hände von Trauernden. Denn es sind Zeugnisse tiefen Empfindens, die auch heute noch direkt zu uns sprechen. Zum Beispiel in folgenden Zeilen: „So weit nun hab ich?s schon gebracht / Mit meinem Schmerz bei Tag und Nacht / Dass ich dich lieber weiß begraben / Als sollt‘ ich nie gehabt dich haben.
“ Ob es besser ist, zu trauern, oder ob es besser wäre, die geliebte Person nie gekannt zu haben und somit nicht trauern zu müssen – diese und andere Gedankenspiele, die Trauernden wohlvertraut sind, finden in Rückerts Gedichten Widerhall.
Die „Kindertodtenlieder“ sind eine poetische Reise durch das Land der Trauer, aber gleichzeitig so allgemein gültig, dass sich fast jeder Trauernde in ihnen wiedererkennen kann. Es gibt kaum einen Aspekt des Trauerprozesses, der bei Rückert nicht zur Sprache kommt. Dazu gehört, neben dem eigenen Leid, das Unverständnis über den Umgang der Gesellschaft mit der Trauer: „Jeder hat in dem eigenen Herzen / Eine Kammer für seine Schmerzen. / Aber im Weltgesellschaftshaus / Tauscht man nur Unterhaltung aus.“ Rückert hat erfahren, dass das Leben um ihn herum weitergeht und von seiner Trauer über den Tod seiner Kinder unberührt bleibt: „Denn gleichgültig ist doch der Welt, / Was ein Herz für so wichtig hält.“
Und als ob dies alles nicht schon schlimm genug wäre, lassen ihn viele Freunde mit seinem Kummer allein, während sich ihm andere Menschen zuwenden. Auch seine Enttäuschung und Verwunderung darüber hat Rückert festgehalten: „Meine Freunde, Herzverwandte, / Haben schmählich mich verlassen, / Während Fremde, Unbekannte, / Die zu mir doch gar nicht passen, / Sich mit mir befassen.“
Trauernde sind sehr verletzlich. Obwohl sie sich oft zurückziehen, registrieren sie sehr genau, wie sich ihre Umgebung verhält. Sie erfahren, dass ihnen manche Menschen aus dem Weg gehen, als ob sie eine ansteckende Krankheit hätten. Und bei jenen, die das Wort an sie richten, können sie ehrliche Anteilnahme und Vertröstung meist gut auseinanderhalten: „Über alle Gräber wächst zuletzt das Gras, / Alle Wunden heilt die Zeit, ein Trost ist das, / Wohl der schlechteste, den man dir kann ertheilen. / Armes Herz, du willst nicht, dass die Wunden heilen.“ Schon Rückert hörte diese Floskeln, die teils gedankenlos, teils gut gemeint, aber letztlich wenig tröstlich und hilfreich sind.
Die eigene Untröstlichkeit und das hilflose Geplapper vieler Mitmenschen gegeneinander abwägend, geht Rückert mit sich selbst ins Gericht: „Sei in Deinem Trauerfall / Doch nicht so unduldsam all / Wenn sie trösten Dich, so gut sie?s verstehen / mit Wortgelall!“ Floskeln lassen Trauernde noch hilfloser zurück, als sie es vorher waren, denn sie sind nur Worthülsen und ein Schutzschild für diejenigen, die sie von sich geben. Und sie machen deutlich, dass die Mitmenschen, von denen sich Trauernde Hilfe erhoffen, entweder nicht willens oder oft einfach nicht in der Lage sind, wirklich zu helfen.
Vieles lässt man über sich ergehen, aber manches erzeugt Bitterkeit, heute wie damals: „Rathet mir nicht zum Vergnügen! / Es kann nicht mein Herz betrügen, / Kann nur Leid zum Leide fügen.“ Rückert verwahrt sich gegen solche wohlfeilen Ratschläge, bis hin zum trotzigen Ausruf: „Das sei mein Trost allein: / Untröstlich will ich seyn.“ Ein Protest gegen die Erwartungshaltung der Gesellschaft – und zugleich Auflehnung gegen die Zumutung, die Tatsache des Todes zu akzeptieren. Den Tod muss man wohl zur Kenntnis nehmen, doch akzeptieren kann man ihn oft trotzdem nicht.
Des Menschen Herz ist überfordert, zu verstehen, dass die, die man in ihrer Lebendigkeit geliebt hat, nun unter der Erde liegen. Auch für Rückert wird der Gang zum Friedhof zur Reise in eine unwirkliche Welt. „Eure Geister sind nicht hier zugegen“, schreibt er: „Dass ihr läget unter diesen Hügeln, / Das zu glauben kann mich nichts bewegen.“ Die Erinnerung an das Leben ist noch so lebendig, dass für den Tod in dieser Vorstellungswelt kein Platz ist: „Oft denk‘ ich, sie sind nur ausgegangen, / Bald werden sie wieder nach Haus gelangen.“
Die Sehnsucht und die Hoffnung auf ein Wiedersehen ist ein ständiger Begleiter der Trauer. Auch Rückert sucht dieses Zusammensein, die Wiederherstellung der gewohnten Ordnung: „Was kann mich das verhindern? / Ich will zu meinen Kindern“, schreibt er, und gibt seiner Hoffnung auf ein Wiedersehen – wenn nicht in dieser, dann in einer anderen Welt – Ausdruck: „Sie sind voran geflogen, / Nicht meiner Lieb‘ entzogen / Ich nehm‘ ein schnell Gefieder / Und einhol‘ ich sie wieder.“
Die Verwundung des Herzens und die Verwunderung darüber, trotz dieses Schmerzes weiterleben zu können; die Wut in der Trauer und die Auflehnung gegen den Tod; das Gefühl, nun in der Welt fremd zu sein und die Enttäuschung über die Gesellschaft, die mit Trauernden meist nichts zu tun haben will; die verzweifelte Suche nach Antworten; die Hoffnung auf ein Wiedersehen; all dies und vieles andere mehr, was Trauernde bewegt, hat Rückert erlebt, erlitten und in Worte gefasst. In den „Kindertodtenliedern“ findet das sprachlose Entsetzen der Trauer zur Sprache zurück. Die Gedichte zeigen, dass Trauer schmerzlich ist, aber auch Zeugnis einer Verbindung, die den Tod überdauert: „Etwas hast Du noch, solang es schmerzlich brennt; Das Verschmerzte nur ist todt und abgetrennt.“ Und sie zeigen eine Entwicklung auf, an deren Ende eine neue Beziehung zu den Toten steht: „Schönste der Himmelsgaben, / Verloren Dich zu haben, / Wenn ich‘s erwäge reiflich, / Es ist mir unbegreiflich. / Es ist mir unbegreiflich, / Wenn ich‘s erwäge reiflich, / Noch immer Dich zu haben, / Schönste der Himmelsgaben.“
Friedrich Rückerts „Kindertodtenlieder“ sprechen vom Leid der Trauer, aber auch von ihrem Sinn, am schönsten vielleicht in den Zeilen: „Du bist ein Schatten am Tage, / Und in der Nacht ein Licht; / Du lebst in meiner Klage, / Und stirbst im Herzen nicht.“ In Rückerts Versen klingen tiefe innere Wahrheiten an. Es sind Gedichte, die den Schmerz der Trauer festhalten und in Liebe verwandeln, geschrieben in der Sprache des Herzens.