Der Kampf um die Deutungshoheit des Diesel-Urteils beginnt am Dienstag bereits, da hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig seine Entscheidung noch überhaupt nicht bekanntgegeben. Grünen-Politiker fordern die Bundesregierung zu entschiedenem Handeln auf, im Minutentakt geben dann Verbände, Lobbygruppen, Parteien und Initiativen ihre vorbereiteten Stellungnahmen heraus. Die Entscheidung löst ein gewaltiges Echo aus. Schließlich trifft sie nicht nur Millionen Autofahrer und Beschäftigte, sondern auch die Schlüsselbranche des Landes und damit das Selbstverständnis einer Nation, in der freie Fahrt für freie Bürger als ungeschriebenes Grundrecht angesehen wird.
Grundsätzlich hält das Bundesverwaltungsgericht Diesel-Fahrverbote für zulässig. Die von der Klage betroffenen Städte Stuttgart und Düsseldorf müssen ihre Luftreinhaltepläne jedoch auf Verhältnismäßigkeit prüfen. Und: Es sollen Übergangsfristen und Ausnahmeregeln – zumindest für Handwerksbetriebe – gelten. Eine entsprechende Entscheidung war von den meisten Experten erwartet worden. Schließlich haben die beiden nun betroffenen Städte den für den Straßenverkehr geltenden Grenzwert von 40 Mikrogramm Stickoxid im Jahresmittel deutlich überschritten. Und nicht nur sie. Stuttgart und Düsseldorf sind nur zwei exemplarisch ausgewählte Städte, gegen die die Deutsche Umwelthilfe (DUH) geklagt hat. Doch auch Städte wie München (78 Mikrogramm Stickoxid im Jahresmittel), Augsburg (44), Heilbronn (55), Nürnberg (43), Freiburg (49) oder Reutlingen (60) überschreiten den Grenzwert.
Welche Folgen das Urteil nun genau mit sich bringt, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. „Wir haben ab heute Diesel-Fahrverbote durchgesetzt“, frohlockt der Chef der klagenden DUH, Jürgen Resch, unmittelbar nach der Urteilsverkündung. Resch spricht gar von einem ganz großen Tag für saubere Luft in Deutschland. Auch für den Verkehrsclub Deutschland (VCD) steht fest: Die betroffenen Städte werden um Dieselfahrverbote nicht herumkommen. Darin immerhin herrsche Klarheit. Der einstige Grünen-Chef Cem Özdemir nutzt das Urteil für eine Breitseite gegen die politische Konkurrenz aus Bayern. „Dass es überhaupt so weit kommen konnte, geht auf die Kappe der zuständigen CSU-Minister im Verkehrsministerium“, sagt Özdemir.
Der CSU-Bundestagsabgeordnete Georg Nüßlein sieht indes Fahrverbote keinesfalls als zwingend an: „Unser Ziel müssen die geringstmöglichen Auswirkungen für die betroffenen Autofahrer sein“, sagt er dieser Redaktion. Schließlich habe das Gericht die Verhältnismäßigkeit betont. Das bedeute für ihn: Individuelle Lösungen in den betroffenen Kommunen. Das könnten Umgehungsstraßen und Umrüstungen im öffentlichen Personennahverkehr sein oder – je nach Topografie einer Stadt – auch bauliche Maßnahmen, mit der ein Anstieg der Stickstoffdioxid-Konzentration an bestimmten Stellen verhindert werden könne. Auch der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) macht klar: „Fahrverbote sind nicht alternativlos. Es gibt zahlreiche Maßnahmen und Lösungswege, mit denen sich Schadstoffe spürbar reduzieren lassen. Diese Möglichkeiten müssen ausgeschöpft werden“, sagt ZDH-Präsident Hans Peter Wollseifer.
In der Tat lässt das Urteil noch Interpretationsspielraum. Die Revisionen der Länder Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen hat Leipzig „überwiegend“ zurückgewiesen. Und doch nimmt das Gericht klar Bezug zu möglichen Fahrverboten. Stuttgart etwa müsse Verkehrsverbote phasenweise prüfen. In einer ersten Phase betreffe dies nur ältere Fahrzeuge bis zur Abgasnorm Euro 4, Euro-5-Fahrzeuge dürfen demnach nicht vor dem 1. September 2019 mit Fahrverboten belegt werden. Das Stuttgarter Verwaltungsgericht selbst hat Fahrverbote für Dieselfahrzeuge als „effektivste“ Maßnahme bezeichnet. Das vielfach vorgebrachte Argument, Fahrverbote seien ein unzulässiger Eingriff in die Eigentumsrechte der Fahrzeugbesitzer, lässt das Bundesverwaltungsgericht denn auch nicht gelten. „Gewisse Wertverluste sind hinzunehmen“, sagt der Vorsitzende Richter Andreas Korbmacher. Es gebe keine finanzielle Ausgleichspflicht. FDP-Chef Christian Lindner spricht von einer drohenden „kalten Enteignung“ der Autofahrer.
Auch nach dem Urteil bleiben Umweltverbände und Bundesregierung über Kreuz. „CDU, CSU und SPD müssen jetzt Verantwortung zeigen und schnellstmöglich die blaue Plakette für saubere Diesel beschließen und die Diesel-Nachrüstung auf Kosten der Autohersteller durchsetzen“, fordert der VCD-Bundesvorsitzende Wasilis von Rauch.
Erklärtes Ziel der Bundesregierung bleibt es, Fahrverbote noch zu vermeiden. Der geschäftsführende Verkehrsminister Christian Schmidt (CSU) bezeichnet dies als „machbar“ und verweist auf das Förderprogramm des Bundes für Kommunen von einer Milliarde Euro. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Schmidt nimmt Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) die Autohersteller als „Verursacher des Problems“ in die Pflicht. Und doch sind Fahrverbote für bestimmte Pkw bei Hendricks Teil der Gedankenspiele: „Wenn es zu Fahrverboten käme, bräuchten wir Kennzeichnungen für diejenigen, die nicht unter die Fahrverbote fallen. (...) Ob die ,blaue Plakette‘“ heißen oder ,roter Fuchsschwanz‘ ist mir egal.“ Den Streit um Fahrverbote wird die geschäftsführende GroKo an eine künftige GroKo weitergeben, sofern sie denn zustande kommt.