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Die Wundermacht des Wortes
Der Trauer Worte geben: In ihrem Buch „Paula“ beschreibt Isabel Allende das Sterben ihrer Tochter und ihre Zeit der Trauer. Das Schreiben half ihr dabei, die Erinnerung zu bewahren und das Leiden in Kraft zu verwandeln.
Herbert Scheuring
Herbert Scheuring
 |  aktualisiert: 07.01.2016 14:52 Uhr

Wer um das Leben eines geliebten Menschen bangt, in der Sorge um ihn zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankt, Angst vor der Trennung hat und alle möglichen Situationen gedanklich durchspielt, stellt sich oft auch die Frage, ob es ein Jenseits gibt – und wenn ja, was dort dann ist, jenseits des Lebens. Kann es noch irgendeine Art von Verbindung geben zwischen den Lebenden und den Toten? „Wenn ich ganz regungslos bleiben könnte, ohne zu sprechen oder zu denken, ohne zu flehen, zu weinen, zu erinnern oder zu hoffen, wenn ich mich in das vollkommene Schweigen versenken könnte, vielleicht würde ich dich dann hören können, Tochter“, schreibt Isabel Allende in ihrem Buch „Paula“ (Suhrkamp Verlag). Das 1995 erschienene Buch ist das persönlichste der chilenisch-amerikanischen Schriftstellerin, die durch Romane wie „Das Geisterhaus“ oder „Eva Luna“ weltweit bekannt wurde. Allende schrieb es zur Erinnerung an ihre Tochter, die im Alter von 29 Jahren starb. Es ist ein Buch über das Sterben und menschliche Beziehungen, die der Tod zu zerreißen droht. Es ist aus der Trauer heraus entstanden, während der Krankheit und nach dem Tod der Tochter geschrieben.

Paula fiel nach Komplikationen im Verlauf ihrer Krankheit 1991 ins Koma. Sie litt an Porphyrie, einer Stoffwechselstörung. Allende zeigte sich später davon überzeugt, dass Paula nicht an ihrer Krankheit starb, sondern aufgrund eines Fehlers, der in der Klinik begangen wurde – der Nichtbeachtung einer Medikamentenunverträglichkeit. Paula überlebte zwar, aber in einem Zwischenreich zwischen Leben und Tod. Ihre Tochter selbst ansprechend, schreibt Allende: „Von diesem Augenblick an blieb das Leben für dich und auch für mich stehen, wir beide überschritten eine geheimnisvolle Schwelle und traten ein in den Bereich der tiefsten Finsternis.“ Um zu zeigen, dass sie bei ihr ist, und in der Hoffnung, dass ihre Tochter sie vielleicht hören kann, setzt sich Allende ans Krankenbett und erzählt ihrer Tochter Geschichten – sie erzählt, um den Kontakt nicht abreißen zu lassen, um irgendeine Form der Kommunikation aufrechtzuerhalten.

Das Buch beginnt mit folgenden Worten: „Hör mir zu, Paula, ich werde dir eine Geschichte erzählen, damit du, wenn du erwachst, nicht gar so verloren bist.“ Allende wollte ihrer im Koma liegenden Tochter durch das Erzählen ihre Identität ins Gedächtnis zurückrufen. Sie erzählt von Paulas Kindheit, ihren Freunden und Verwandten, vom Großvater und geht zurück bis zum Anfang der Familiengeschichte in Südamerika. Die Passagen, in denen Allende ihre Tochter direkt anspricht, bilden das Fundament dieses Buches. Sie wechseln ab mit Schilderungen ihrer Besuche im Krankenhaus und der Träume, in denen ihr Paula erscheint, mit Gedanken über Liebe, Tod und die Bedeutung familiärer Bindungen.

Das Leben im Krankenhaus folgt seinem eigenen Rhythmus. Es ist eine Welt für sich. Wer dort täglich ein- und ausgeht und um einen geliebten Menschen bangt, der zwischen Leben und Tod schwebt, wirkt nach außen hin meist gefasst. Tief im Inneren jedoch sieht es anders aus. Die Sorge um ihre Tochter lässt Allende fast wahnsinnig werden. Sie weiß oft nicht mehr, welcher Tag gerade ist, die Zeitungsnachrichten interessieren sie nicht mehr, die Welt um sie herum schrumpft zusammen auf einen kleinen Punkt, das Krankenbett ihrer Tochter, und die Angst um sie überlagert alles.

Allende beschreibt, wie sie jeden Tag aufs Neue das Krankenhaus betritt, sich auf den Weg zur Station macht, auf der ihre Tochter liegt, und dabei vor Angst selbsterfundene Zauberformeln murmelt: „Ich wandere durch die endlosen einsamen Korridore, wo sogar das Klopfen meines Herzens widerhallt, und mir ist, als ginge ich auf einem Laufband, das in die entgegengesetzte Richtung rollt, ich komme nicht vorwärts, immerzu bin ich auf demselben Fleck, müder und müder werdend.“

Sechs Monate liegt Paula im Krankenhaus. Zweimal am Tag öffnet sich für Allende die Tür zur Intensivstation. Dort warten das Surren des Atemgeräts, die Schläuche, Kanülen und von blauen Flecken übersäten Arme ihrer Tochter, zu der sie spricht – wartend auf ein Wunder und beseelt von dem Wunsch, sie wieder ins Hier und Jetzt zurückholen zu können. Allende will die Hoffnung nicht aufgeben.

Sie weiß, dass die Ärzte nicht mehr für ihre Tochter tun können, denkt aber – wie viele andere auch in dieser Situation – über alternative Heilmethoden nach, will auf andere Mittel zurückgreifen, auch auf die unwahrscheinlichsten, um Paula zu retten und sie dem Zugriff des Todes zu entreißen.

Der Tod, er sitzt immer mit am Krankenbett, während Allende mit ihrer Tochter in Kontakt zu treten, sie aus seinen Fängen zu befreien versucht. „Am Kosmos und am Lauf der Geschichte gemessen, sind wir unbedeutend, nach unserem Tode geht alles weiter seinen Gang, als hätten wir nie existiert“, schreibt Allende. Aber dieses eine Leben, das Leben ihrer Tochter, ist in dieser Situation das Einzige, was für sie zählt, wichtiger als alles andere, wichtiger sogar als ihr eigenes Leben.

Bei einer neuen Untersuchung wird festgestellt, dass Paulas Gehirn bleibende Schäden davongetragen hat. Die Ärzte schlagen vor, sie in ein Pflegeheim zu verlegen. Allende nimmt ihre Tochter mit zu sich nach Hause und schreibt, neben ihrem Bett sitzend, weiter an dem langen Brief an sie, den sie bereits im Krankenhaus begonnen hatte und der später Grundlage für ihr Buch werden sollte.

Das Schreiben hielt sie beschäftigt, erklärte Allende später, es „zerstreute ein wenig die Angst und half Kräfte zu sammeln, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie in mir waren“.

In manchem erinnert „Paula“ an Allendes ersten Roman „Das Geisterhaus“, für den sie ebenfalls in die Vergangenheit eintauchte und tief aus dem Brunnen ihrer Familiengeschichte schöpfte. Auch „Das Geisterhaus“ hatte den Tod als Ausgangspunkt: Der Roman geht auf einen Brief zurück, den Allende ihrem Großvater schrieb, nachdem dieser 1981 gestorben war. „Paula“ ist noch persönlicher, weil Allende durch die Krankheit und das Sterben ihrer Tochter in ihrem Innersten getroffen wurde. Darüber zu schreiben, ist immer eine schwierige Gratwanderung. An einigen Stellen – vor allem bei manchen Dialogen – scheint das Buch die Grenze zum sentimentalen, semifiktiven Gefühlsroman zu überschreiten. Dennoch ist „Paula“, als Ganzes gesehen, ein außergewöhnliches literarisches Dokument des Abschiednehmens, in dem sich unterschiedliche Erzählebenen und erzählende Stimmen mischen.

Nach einer langen Zeit des vergeblichen Hoffens merkt Allende, dass ihr Wunsch, Paula am Leben zu erhalten, sie gar ins Leben zurückzubringen, nicht in Erfüllung gehen wird. Paula erscheint ihr im Traum. In diesem Traum sagt sie, dass sie sterben wolle, da sie aufgrund ihres körperlichen Zustands nie mehr der Mensch sein könne, der sie gewesen war, dass ihr Leiden zu groß und ihr die Rückkehr ins Leben versperrt sei. In Allendes Traum verabschiedet sich ihre Tochter von ihr mit folgenden Worten: „Quäl dich nicht mit dem Gedanken an das, was hätte sein können und doch nicht war, an das, was du hättest anders machen müssen, an die Unterlassungen und Irrtümer, vergiss das alles! Nach meinem Tod werden wir so in Verbindung bleiben, wie du es mit deiner Großmutter und der Granny bist, du wirst mich in dir tragen als eine ständige Gegenwart, ich werde kommen, wenn du mich rufst.“

Von diesem Moment an setzt bei Allende ein Umdenken ein. Sie ist bereit, den Tod der Tochter zu akzeptieren. Sie spricht Paula wieder direkt an, am Krankenbett wie im Buch, ruft all die Jahre, die sie miteinander verbracht haben, in Erinnerung. Am Krankenbett sitzend, zusammen mit Paulas Mann Ernesto, verspricht sie ihrer Tochter, dass sie sie bis zum letzten Augenblick in dieser Welt begleiten würden und dass sie auch nach ihrem Tod in ihrer Erinnerung fortdauern werde. Zwei Wochen später ist Paula dann gestorben. Mit den Worten „Leb wohl, Paula, meine Tochter. Sei gegrüßt, Paula, Geist“ endet das fast 500 Seiten umfassende Buch.

In ihrer kleinen Nachschrift „Briefe für Paula“ (1996) berichtet Allende ein Jahr später, wie die Trauer über sie kam. Während der Zeit der Krankheit ihrer Tochter war sie damit beschäftigt, gegen das Unglück anzukämpfen, dem passiven Leiden aktiv etwas entgegenzusetzen, der illusorischen Hoffnung täglich aufs Neue Nahrung zu geben.

Erst, als Paula gestorben und nichts mehr zu tun und zu erledigen war, was die Angst vor dem Verlust zumindest eine Zeit lang in den Hintergrund treten lassen konnte, auf sich selbst zurückgeworfen und mit der unwiderruflichen Tatsache des Todes konfrontiert, überfiel sie dann das erdrückende Schweigen der Trauer. Allende zitiert ihre Mutter, die ihr damals sagte: „Trauer ist wie ein langer, dunkler Tunnel, durch den du allein gehen musst. Am anderen Ende ist Licht, aber noch kannst du es nicht sehen. Glaub mir, Isabel, nichts kann dir dieses Leiden ersparen, weder Antidepressiva noch irgendwelche Therapien, auch keine Ferien auf einer Tropeninsel, nicht einmal die Liebe deines Mannes und deiner Enkelkinder.“

Allendes Buch „Paula“ basiert auf der ein Jahr lang währenden Zeit des Abschiednehmens. Aufzuschreiben, was war, festzuhalten, in welchen Gedanken sie Trost fand, war Allendes Weg, sich der Trauer zu stellen.

In ihrem Vorwort zu „Briefe für Paula“ berichtet sie, wie sie sich nach dem Tod ihrer Tochter ein ganzes Jahr lang jeden Morgen zum Schreibtisch schleppte, dieses Erinnerungsbuch zusammenstellte und durch dieses Tun den Tunnel der Trauer durchschritt. Danach hatte sie nicht mehr den Wunsch, zu sterben, sondern weiterzuleben.

Das Buch über Paula zu schreiben sei ein Wagnis gewesen, bekennt Allende. Zuvor habe sie nur Romane und Erzählungen geschrieben, dieses Buch der Erinnerung sei „wie ein Sprung in den Abgrund“ gewesen. Aber das Buch half nicht nur ihr selbst aus der Trauer. Allende erhielt über tausend Briefe von Lesern aus aller Welt und erkennt, dass all ihre früheren Bücher zusammengenommen nicht so viel Leserpost ausgelöst haben wie „Paula“ in wenigen Monaten. Die Lawine von Briefen habe ihr gezeigt, dass die Entscheidung, das Buch zu veröffentlichen, richtig gewesen war, schreibt sie: „Indem ich vor den Lesern mein Innerstes öffnete, machte ich mich nicht etwa verletzlicher, sondern stärker, denn aus allen Teilen der Welt streckten sich mir Hände entgegen, die mir Halt gaben.“

Die amerikanische Schriftstellerin Joan Didion schrieb in ihrem Buch „Das Jahr magischen Denkens“, einer Analyse ihrer Trauer nach dem Tod ihres Mannes, sie habe keine Nähe zu ihrem verstorbenen Mann gespürt, sondern vielmehr dessen „endlose Abwesenheit“ – und zieht daraus den Schluss, dass man die Toten nicht bei sich behalten könne, sondern loslassen müsse. Loslassen musste Allende ihre Tochter, die nach fast einem Jahr im Koma immer schwächer wurde und nicht mehr ins Leben zurückkehren konnte, auch. Aber nur körperlich. Eine „endlose Abwesenheit“, wie Didion nach dem Tod ihres Mannes, verspürte sie nicht. Isabel Allende berichtet in „Paula“ von ganz anderen Erfahrungen: „In diesem Jahr der Qualen habe ich nach und nach auf alles verzichtet, zuerst verabschiedete ich mich von Paulas Intelligenz, dann von ihrer Vitalität und von ihrer Gesellschaft, zum Schluss muss ich mich von ihrem Körper trennen. All das habe ich verloren, und meine Tochter ging von mir, aber in Wirklichkeit ist mir das Wesentliche geblieben: die Liebe.“

Isabel Allendes Buch „Paula“ ist keine Totenklage, sondern eine Lebensbeschreibung und die Beschwörung einer bleibenden Verbindung. Allende hat ihrer Trauer Worte gegeben und hierdurch ihrer Tochter eine Gestalt, die den Tod überdauert. Der Schmerz habe sie gezwungen, zu lernen, und die Liebe, zu wachsen. Die Literatur sei für sie ein Stück Alchemie, sie verleihe die Fähigkeit, die Banalitäten der Existenz in kleine Bröckchen Weisheit zu verwandeln. „Vielleicht besteht darin die Wundermacht des geschriebenen Wortes: Es erlaubt uns, die Erinnerung zu bewahren, das Leiden in Kraft zu verwandeln“, schreibt Allende in ihrer Nachschrift „Briefe für Paula“. Das Schreiben über den Tod ihrer Tochter hat ihr dabei geholfen, ihre Trauer zu überwinden. Es hat in ihr die Erkenntnis bestärkt, dass es auch nach dem Tod etwas gibt, was Lebende und Tote verbindet, und somit in ihr neuen Lebensmut geweckt.

Lesen Sie nächste Woche im Magazin: „Der Feind im eigenen Körper“ über Christoph Schlingensiefs Tagebuch einer Krebserkrankung.

 
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