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Die Weggesperrten
Verbotene Bücher: Schlüpfriges und Schützenswertes, Politisches und Pornografisches – ein Besuch in der Würzburger Universitätsbibliothek im Magazin mit der sekretierten Literatur.
Wertvoll, deshalb weggestellt: Die Universitätsbibliothekare Kerstin Dößel und Wolfgang Sämmer zwischen den Regalen mit den besonders schützenswerten Büchern.
Foto: THOMAS OBERMEIER | Wertvoll, deshalb weggestellt: Die Universitätsbibliothekare Kerstin Dößel und Wolfgang Sämmer zwischen den Regalen mit den besonders schützenswerten Büchern.
Von unserem Redaktionsmitglied Alice Natter
 |  aktualisiert: 07.01.2016 14:55 Uhr

Ein bisschen fehl am Platz mag sich das Schweinchen ja schon fühlen. So als zartrosa Ferkel aus dem dünnen Kinderbuch zwischen all den dicken Folianten und gewichtigen Lexika. Zwischen monumentalen Drucken aus dem 18. Jahrhundert, die einst zu ihrem Schutze in zerschnittene Pergamenthandschriften gehüllt worden waren. Neben golden schimmernden Quartbänden und zarten Oktavbändchen, die hier verwahrt werden. Neben wertvollen Drucken mit brüchigem Rücken, die so selten und rar sind, dass sie die Mitarbeiter der Würzburger Universitätsbibliothek aus konservatorischem Grund ins Rara-Magazin gestellt haben. Und das Schwein? Im Oktober 2007 war das Kinderbuch „Wo bitte geht's zu Gott? fragte das kleine Ferkel“ auf den Markt gekommen. Michael Schmidt-Salomon und Helge Nyncke erzählen darin von Ferkel und Igel, die sich auf den Weg machen, Gott zu suchen. Bald war das 20-seitige Büchlein des Aschaffenburger Alibri-Verlags heftig in der Diskussion. Das Buch sei antisemitisch, meinte die Diözese Rottenburg-Stuttgart und stellte Strafanzeige wegen Volksverhetzung. Das Buch mache Christentum, Islam und Judentum verächtlich, meinte auch das Familienministerium.

Also sollte die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien prüfen, ob das freche Ferkel auf den Index musste. Bis zur Entscheidung nach ein paar Wochen schickte die Würzburger Universitätsbibliothek das umstrittene Kinderbuch hinauf in den vierten Stock. Hinter die Gittertür, in jenes Magazin, in das selbst viele Bibliotheksmitarbeiter nicht kommen. Denn im Rara-Magazin hinter der Brandschutztür, weit ab vom Schuss, haben die seltenen, die wertvollen, die schützenswerten und eben auch die heiklen und verbotenen Bücher Obhut gefunden. Wer von den eingeweihten Bibliothekaren hineingeht, trägt sich in eine Liste ein.

„Alle Medien hier haben strenge Benutzungsauflagen“, sagt Bibliothekarin Kerstin Dößel. Apotheken, chemische Labors und Schulen sind per Gesetz dazu verpflichtet, alles Gift und als gefährlich eingestufte Substanzen gut unter Verschluss zu halten. Und Bibliotheken auch: In allen Zeiten hatte es in der Welt des geschriebenen Wortes Schriften gegeben, die als so gefährlich galten, dass man sie unter Verschluss zu halten, dem Zugriff der Leser zu entziehen suchte. So entstanden in den Bibliotheken die Giftschränke mit sekretierter, verbotener Literatur.

Das wirkungsvollste Leseverbot demonstrierte der Index Librorum Prohibitorum, den die römische Inquisition im 16. Jahrhundert anlegte. Wer ein Buch vom Index las, riskierte die Exkommunikation. Über Jahrhunderte wurde die Liste der unliebsamen Bücher gepflegt. Als die katholische Kirche sie anno 1966 abschaffte, umfasste sie rund 6000 Werke. Giordano Bruno, Luther und Marx waren darunter, der spitzzüngige Heinrich Heine und Simone de Beauvoir. Würden die Sittenstrengsten der katholischen Kirche den Index weiterschreiben – sie würden heute wohl Umberto Ecos „Der Name der Rose“ oder Dan Browns „Sakrileg“, die von der Personalprälatur Opus Dei verfemt werden, in den literarischen Giftschrank stellen.

Gut 3,3 Millionen Medien hat die Unibibliothek in ihrem Bestand. Etwa 60 000 von ihnen sind weggesperrt und abgesondert vom normalen Leseverkehr, rund 850 wegen rechtlichen Auflagen. Ein paar Regalmeter „giftiger“ Literatur kommen da schon zusammen. Im Magazin aber, erzählt Bibliothekar Wolfgang Sämmer, sind die sekretierten Bücher nach Fachgruppen geordnet an verschiedenen Stellen einsortiert. Der unsägliche „Giftpilz“ aus dem Nürnberger Verlag „Der Stürmer“, Jahrgang 1938, steht irgendwo zwischen den prachtvollen alten Werken und Raritäten. Gothaischer genealogischer Hofkalender, Bestimmungstabellen der Käfer Deutschlands, Brehms Tierleben im dicken Ledereinband. Wunderbar Gebundenes, Pergamentverhülltes, vor Jahrhunderten Gedrucktes – das Magazin im vierten Stock ist ein Paradies für Bibliophile. Und ein kulturhistorisches Kuriositätenkabinett. Antisemitische Schriften reihen sich neben schmucke Erstausgaben, nationalsozialistische Kriegsliteratur steht einträchtig neben Raritäten auf empfindlichem Papier.

Weggeschlossen wird, was ein Gericht verbietet – wie Maxim Billers „Esra“, von dem schon 4000 Exemplare ausgeliefert worden waren. Die ehemalige Lebensgefährtin des Autors hatte sich in der Romanfigur wiedergefunden und – erfolgreich – auf Unterlassung geklagt. Wochenlang stand „Esra“ in den frei zugänglichen Regalen der Germanistikabteilung. Dann musste das Buch hinauf in den vierten Stock, hinter Gitter.

Weggeschlossen wird vor allem, was die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien „ächtet“ und zensiert, auch wenn es Zensur laut Grundgesetz nicht geben darf: Texte, die Gewalt verherrlichen, die sexuell anstößig sind, also Kinder und Jugendliche sittlich gefährden könnten, lassen die Prüfer einziehen. De Sades „Philosophie im Boudoir“ steht in den öffentlichen Bibliotheken deshalb nicht im Freihandmagazin, auch die Memoiren der Josefine Mutzenbacher und andere erotische Klassiker sind auf den Index gerutscht – und hinter Gitter. Eine Zeit lang – sechs Jahre – durfte der Brutaloroman „American Psycho“ von Bret Easton Ellis nicht in den freien Leseverkehr. Und der Psychopathenstory folgte irgendwann prophylaktisch das kleine, gottsuchende Ferkel.

Zu Forschungszwecken holen die Bibliotheksmitarbeiter die weggesperrte Literatur aus dem Magazin. Oder, wie es im Bibliothekarsjargon heißt: Sie heben ein indiziertes Buch aus. Wer „Mein Kampf“ oder Otto Dietrichs „Erlebnisse mit dem Führer in Polen“ lesen will, muss gute, nämlich wissenschaftliche Gründe haben. Nur Neugierde – das reicht nicht. Wer im Hauptseminar Geschichte über die Nazi-Zeit schreibt, darf die Bände zumindest im Sonderlesesaal benutzen. Ausleihen? Kopieren? „Ausgeschlossen“, sagt Kerstin Dößel.

Manchmal reicht auch die schiere Neugier: Die Mitarbeiter der UB können keinem Interessierten über 18 Jahren die Einsicht in „Die geilen Schwestern“ oder die „Begehrte Tante“ verwehren, der „Braune Hengst auf weißer Stute“ oder der „Potenzprotz“ würde für Volljährige jederzeit im Lesesaal bereit gelegt. Jene bunte Bändchen mit den schrillen Titeln, die im vierten Stock, hinten drüben, schon fünf Regalmeter ausmachen. „Aber in den sieben Jahren, in denen ich hier bin, wurde noch kein einziges bestellt“, sagt Wolfgang Sämmer. Dass die Unibibliothek mit ihren akademischen Schätzen überhaupt den „Inzest-Reporter“ und zig andere knallfarbene Bände in seinem Bestand hat? „Das liegt am Pflichtstückgesetz“, erklärt Bibliotheksleiter Dr. Karl Südekum.

Von jedem neuen Buch, das im Freistaat herausgebracht wird, muss der Verlag ein Exemplar nach München zur Staatsbibliothek und ein Exemplar an die Referenzbibliothek im Regierungsbezirk schicken. „Was durch die Pflichtabgabe bei uns im Briefkasten landet, müssen wir behalten“, sagt Südekum. Und erzählt von den Kollegen der Staatsbibliothek in Bamberg, die recht häufig Post mit Büchern zum Wegsperren erhalten – weil im Oberfränkischen recht viele rechtsextreme Verlage beheimatet sind. Die Würzburger UB bekommt dafür die schillernden Titel geschickt. Der umtriebige Erotikverlag Zettner („Derb, direkt, tabulos“) hatte seinen Sitz in Veitshöchheim. Und „Die Beine der Dolores“ haben laut den Jugendschützern nichts in der Öffentlichkeit zu suchen.

Auch anderswo wird noch immer separiert: Die Bayerische Staatsbibliothek in München wacht über sechs Fonds an Remota, an „Weggeschafftem“. Fünf davon sind erst im 20. Jahrhundert begonnen worden. Was hier weggeschafft ist? Schlüpfriges und Politisches, Pornografisches und Volksverhetzendes. In Remota-Abteilung eins und zwei schmiegen sich die Homomagazine „Body Beautiful“ von 1961 an Volkmar Siguschs 1970 erschienenes sexualwissenschaftliches Werk „Exzitation und Orgasmus bei der Frau“. Durch Maschendrahtzaun getrennt sind die Erotika von Literatur, die die Nazis verbannten: „Das kunstseidene Mädchen“ von Irmgard Keun, Hans Beimlers in der Sowjetunion gedruckte Broschüre „Im Mörderlager Dachau“ und die letzten Predigten von Martin Niemöller.

So erzählen die Weggesperrten als Kulturzeugen heute vor allem viel über die jeweiligen Gesellschaften, die die Bücher verbannten. Der autobiografische Bericht des Linksterroristen und Stadtguerilleros Bommi Baumann – in den 70ern sekretiert – steht längst wieder im Freihandregal. Auch das kleine Ferkel übrigens dürfte eigentlich hinaus in die Freiheit. Die Gutachter der Bundesprüfstelle hatten die Geschichte vom gottsuchenden Ferkel doch nicht antisemitisch und nicht jugendgefährdend gefunden.

Veranstaltungstipp: Es ist zwar noch ein bisschen hin, aber den Termin kann man sich ja schon mal vormerken: Am 11. Mai stellen Kers-tin Dößel und Wolfgang Sämmer in der Reihe „Bibliothek für alle“ verbotene Bücher aus Geschichte und Gegenwart vor. Beginn in der Universitätsbibliothek am Hubland ist um 16.30 Uhr.

Bunte Bändchen: das Regal mit den besonders schlüpfrigen und deftigen Schriften.
| Bunte Bändchen: das Regal mit den besonders schlüpfrigen und deftigen Schriften.
Hinter Gittern: Medien mit strengen Benutzungsauflagen werden gut gesichert verwahrt.
| Hinter Gittern: Medien mit strengen Benutzungsauflagen werden gut gesichert verwahrt.
 
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