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Die verletzte Nation
Jahrestag: Frankreich und der Terror – die Anschläge haben das Land verändert. Der Horror begann vor einem Jahr in der Redaktion von „Charlie Hebdo“. Am Donnerstag läuft ein Film über das Satire-Magazin an.
-       -  Trauer und Trotz: Millionen Franzosen gingen nach den Terroranschlägen des vergangenen Jahres auf die Straße. Aber noch immer ist die Nation tief gespalten.
Foto: ArchivJean-Francois Monier, afp | Trauer und Trotz: Millionen Franzosen gingen nach den Terroranschlägen des vergangenen Jahres auf die Straße. Aber noch immer ist die Nation tief gespalten.
Birgit Holzer
 |  aktualisiert: 13.01.2016 03:06 Uhr

Acht Jahre ist die Filmaufnahme alt, auf der Charb spricht, als hätte er in eine Zukunft blicken können, die er nicht mehr erleben sollte. Und auf der er klingt, als erkläre er seinen späteren Mördern die Regeln der Fairness, die sie dann so grausam missachteten. „Man hat das Recht, eine Zeichnung, eine Aussage, ein Wort nicht witzig oder nervtötend zu finden“, sagt er, den Blick in die Kamera gerichtet. „Aber man kann mit einer Zeichnung, einer Aussage, einem Wort antworten. Man muss nicht den Krieg erklären und seinen Gegner physisch auslöschen.“

Genau das taten die Brüder Said und Chérif Kouachi, zwei fanatische Islamisten, die am Vormittag des 7. Januar 2015 schwer bewaffnet in die Redaktionsräume des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ in Paris eindrangen. Hier in der Rue Nicolas-Appert Nummer 10 erschossen die Terroristen zwölf Menschen. Charb, im bürgerlichen Leben Stéphane Charbonnier, ist einer der Toten. Er war der Chefredakteur. Neben ihm starben die Zeichner-Kollegen Cabu (Jean Cabut), Philippe Honoré, Tignous (Bernard Verlhac) und Georges Wolinski.

Die Redaktion, die zunächst bei der Zeitung „Libération“ untergekommen war, ist inzwischen in ein neues Gebäude gezogen. Die alten Räume, die seitdem leer standen, sind nun wieder zu haben. Die städtische Immobiliengesellschaft RIVP will wenigstens diesen Schritt in Richtung Normalität gehen. Frische Farbe an den Wänden auf rund 280 Quadratmetern wird dafür kaum reichen. Dafür ist an diesem Ort zu viel passiert. Dafür hat der Terror Frankreich zu sehr verändert – erst recht, seit im November eine neue beispiellose Gewaltwelle in Paris gleich 130 Menschenleben forderte.

„Charlie Hebdo“ ist so etwas wie der traurige Ausgangspunkt der Anschlagsserie. Während die Kouachi-Brüder damals noch auf der Flucht waren, erschoss der islamistische Attentäter Amédy Coulibaly auf offener Straße die Polizistin Clarissa Jean-Philippe und tötete bei einer Geiselnahme im jüdischen Supermarkt „Hyper Cacher“ den Angestellten Yohan Cohen sowie drei Kunden. Die Erschütterung ging weit über Frankreich und seine Hauptstadt hinaus. Mit „Charlie Hebdo“ waren Symbole der Meinungsfreiheit getroffen worden, mit den Polizisten Vertreter der Staatsgewalt, und erneut wurden gezielt Juden zu Zielscheiben.

Das Motto gegen gewalttätigen Extremismus hieß fortan „Je suis Charlie“ – Ich bin Charlie. In Paris versammelten sich Millionen Menschen auf den Straßen um den Platz der Republik, unweit der früheren Redaktionsgebäude des Magazins. Auch diese starke Bewegung der Solidarität hatte Charb vorhergesehen. „Ich weiß, dass die Leute fähig sind, sich für die Meinungsfreiheit zu mobilisieren“, sagt er in der Jahre zurückliegenden Aufnahme, die bisher unveröffentlicht war und die die Regisseure Daniel und Emmanuel Leconte in ihren Dokumentarfilm eingebaut haben.

„Je suis Charlie“ kommt am Donnerstag in Deutschland in die Kinos – genau ein Jahr nach dem Anschlag. „L?umour a mort“, „Humor bis zum Tod“, heißt das Werk in seiner französischen Version. Es ist eine Hommage an die früher so lustige und aus Prinzip boshafte Truppe, die Daniel Leconte bereits 2008 in einem Film porträtiert hat.

Er mischt darin Szenen von unbeschwerten Momenten der Karikaturisten mit den erdrückenden Bildern nach den Anschlägen, vom Gedenkmarsch oder jener Pressekonferenz, auf der die verbliebene Redaktion ihre „Ausgabe der Überlebenden“ vorstellte, die millionenfach in der ganzen Welt verkauft wurde. „Alles ist vergeben“, erklärt ein weinender Prophet auf der Titelseite. Inzwischen verzichtet „Charlie Hebdo“ übrigens auf Mohammed-Abbildungen.

Zu Wort kommt im Film unter anderem die Zeichnerin Coco (Corinne Rey), die den Tätern gezwungenermaßen den Weg zur Redaktion wies – und zu Charb, nach dem sie gefragt hatten. „Als ich den Code eingebe, spüre ich die Kalaschnikow in meinem Rücken“, lässt die junge Frau mit tränennassen Wangen den Horror Revue passieren. „Ich denke an meine Tochter, alles wirbelt durcheinander, ich bin eigentlich komplett zerrissen, ich . . . ich bin zerrissen.“ Sie selbst wurde von den Attentätern verschont.

Zwei Tage nach ihren Morden starben Said und Chérif Kouachi in ihrem Versteck in einer Druckerei unweit von Paris beim Zugriff der Polizei. „Wir haben Charlie getötet“, hatten sie noch triumphierend gerufen. Doch „Charlie Hebdo“ strafte sie Lügen und machte trotzig weiter, wenn auch tief getroffen und ohne seine talentiertesten Zeichner. Im Herbst verließ auch Rénald Luzier das Magazin. Er hatte die traumatischen Erlebnisse in einem berührenden Bildband verarbeitet.

Auch der Lebensmittelladen „Hyper Cacher“ hat schon kurz nach dem Attentat wieder geöffnet. Er steht unter ständiger Polizeibewachung, ebenso wie Dutzende andere jüdische, aber auch muslimische Einrichtungen und Medienhäuser. Noch immer herrscht die höchste Terrorwarnstufe in der französischen Hauptstadt, das Polizeiaufgebot wurde aufgestockt und ein neues Anti-Terror-Gesetz beschlossen, das den Geheimdiensten weitreichende Kontroll- und Abhörmöglichkeiten einräumt.

Und welche Schlüsse hat die Gesellschaft aus den Vorfällen gezogen? Premierminister Manuel Valls verwies vor allem auf das Problem der Chancen- und Perspektivlosigkeit vieler Bewohner der Banlieues, der oft sozial vernachlässigten Vororte. Die meisten sind Franzosen mit Einwanderungshintergrund. Sie erleben, dass die Schlagworte der Gleichheit und Brüderlichkeit nicht für sie gelten – und entwickeln im extremsten Fall, angetrieben von radikaler islamistischer Ideologie, einen tödlichen Hass auf Frankreich. So war es auch bei den Attentätern. Während Millionen Franzosen das Motto „Je suis Charlie“ vor sich hertrugen, entstand eben auch eine Diskussion über jene, die sich von dieser Bewegung ausgeschlossen fühlten. Viele Muslime wollten sich nicht mit jenem Satire-Blatt solidarisieren, das alle Religionen verunglimpft, also auch den Islam. In einigen Vorort-Schulen verweigerten Kinder die Schweigeminute. So brachten die Anschläge auch die Brüche der französischen Gesellschaft ans Licht.

Ermutigend wirkt im Gegensatz dazu die Geschichte von Lassana Bathily. Das ist jener junge Mann aus Mali, der berühmt wurde als „Held des Hyper Cacher“, wo er arbeitet. Bathily hatte durch sein rasches Eingreifen während der Geiselnahme mehrere Kunden versteckt und so gerettet. Musste er zuvor um sein Bleiberecht in Frankreich bangen, hat er nun die französische Staatsbürgerschaft erhalten. Nach den Pariser Terroranschlägen vom 13. November war der schüchterne Mann wieder in den Medien gefragt. Und wieder rief er ins Land hinaus: „Ich will eine Botschaft der Hoffnung bei den Jungen verbreiten, von den Werten der Familie, die verhindert, dass sie Ziel von Fundamentalisten werden.“

Das Leben nach „Charlie Hebdo“ – es musste weitergehen. Nach der getöteten Polizistin Clarissa Jean-Philippe sind in ihrem Wohnort Carrieres-sous-Poissy sowie in Montrouge, wo Coulibaly sie niederschoss, eine Straße und ein Platz benannt worden. In ihrer Heimat Martinique hat man gar eine Statue zu ihren Ehren errichtet. Chloé Verlhac, die Witwe des Zeichners Tignous, beendete einen von ihm begonnenen Comicband. Maryse Wolinski veröffentlichte ein Buch über den schmerzhaften Abschied von ihrem Mann, in dem sie Vorwürfe über Sicherheitsmängel erhob und ihrem Schmerz über den bitteren Verlust Ausdruck verlieh.

„47 Jahre gemeinsamen Lebens zerschlagen“, schreibt sie. „Ich schwanke zwischen Schlaflosigkeit und Albträumen, Fassungslosigkeit und Verweigerung, Verschlossenheit und Wut, besessen von dieser Frage: Wie konnte sich eine Kriegsszene in Frankreich, in den Räumen einer Satirezeitung abspielen?“

Sie erzählt auch, dass Wolinski zuletzt auf Abstand zu „Charlie Hebdo“ gegangen war. Er hatte dem Blatt keine Zukunft mehr eingeräumt. Längst fehlte es an Lesern, Unterstützung und Geld. Das hat sich seit den Anschlägen geändert. Hat das Magazin vor dem Anschlag um die 30 000 Exemplare verkauft, sind es derzeit etwa 280 000. Zum Jahrestag soll eine Sonderausgabe mit einer Auflage von knapp einer Million erscheinen. Von einer möglichen Pleite ist längst keine Rede mehr. Aus mehr als 80 Ländern sind teilweise kräftige Spenden geflossen. Die Zukunft scheint vorerst gesichert. Gerade hat das Magazin bekanntgegeben, den Familien der Opfer knapp vier Millionen Euro überweisen zu wollen.

Nach den Terroranschlägen vom 13. November hat „Charlie Hebdo“ ein – mal wieder – umstrittenes Titelblatt veröffentlicht. „Sie haben die Waffen“, stand darauf, „das ist uns egal, wir haben den Champagner!“ Weitermachen, weiter provozieren und weiter anecken – darum geht es den Machern von „Charlie Hebdo“ ein Jahr nach dem Terror. Sonst hätte dieser gewonnen.

Wie die Ermittlungen nach den Anschlägen vom 13. November vorankommen

Nach dem Horror vom 7. Januar 2015 erschütterte eine zweite Terrorserie die französische Hauptstadt Paris: Die Anschläge: Am 13. November töten IS-Extremisten insgesamt 130 Menschen. In der Konzerthalle „Bataclan“ richten sie ein Massaker an, Bars und Restaurants werden beschossen, am Stade de France sprengen sich während des Fußball-Länderspiels Frankreich-Deutschland drei Selbstmordattentäter in die Luft. Die ersten Spuren: Sie weisen nach Belgien. Bei einer Razzia in Brüssel-Molenbeek werden mehrere Menschen festgenommen. Als ein Drahtzieher gerät der belgische Islamist Abdelhamid Abaaoud ins Visier. Gefahndet wird überdies nach Salah Abdeslam, Bruder eines der Attentäter.

Die ersten Erfolge: Bei einem Anti-Terror-Einsatz am 18. November bei Paris nimmt die Polizei sieben mutmaßliche Komplizen der Attentäter fest. Drei weitere Verdächtige sterben. Einer ist der gesuchte Abaaoud. Die weiteren Schritte: Fünf Tage später werden in Brüssel 16 Personen vorläufig festgenommen. In den folgenden Wochen gibt es in Belgien weitere Razzien mit Festnahmen von Verdächtigen. Erst in den Tagen vor Silvester verhaftet die Polizei in Brüssel acht Terrorverdächtige. Es habe Pläne für Anschläge in der Silvesternacht gegeben, so die Staatsanwaltschaft. Der Meistgesuchte: Das ist weiterhin Salah Abdeslam. Er soll direkt an den Pariser Anschlägen beteiligt gewesen sein. Wie die Tageszeitung „Le Soir“ berichtet, war er bei der Rückfahrt aus Paris extrem nervös. Er habe seinen Mitfahrern gedroht, das Auto sofort explodieren zu lassen, falls sie ihn nicht nach Brüssel zurückbringen sollten, heißt es unter Berufung auf Vernehmungsprotokolle. Nach einem Bericht des öffentlichen Senders „RTBF“ hielt sich Abdeslam drei Tage in Molenbeek-St. Jean auf. Er soll einen Umzug in der Straße genutzt haben, um der Polizei zu entkommen. Text: dpa

 
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