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ISTANBUL
Die unglaubliche Geschichte der Mesale Tolu
Prozess gegen Tolu in Istanbul fortgesetzt       -  Die Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu, ihr ebenfalls angeklagter Mann Suat Corlu und ihr Vater Ali Riza Tolu stehen am Donnerstag nach der Entscheidung vor dem Gerichtsgebäude im Istanbuler Stadtteil Caglayan. Tolu darf die Türkei noch immer nicht verlassen.
Foto: Linda Say, dpa | Die Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu, ihr ebenfalls angeklagter Mann Suat Corlu und ihr Vater Ali Riza Tolu stehen am Donnerstag nach der Entscheidung vor dem Gerichtsgebäude im Istanbuler Stadtteil Caglayan.
Susanne Güsten       -  Susanne Güsten war Korrespondentin in der Türkei.
Susanne Güsten
 |  aktualisiert: 11.12.2019 18:34 Uhr

Mesale Tolu hat seit Monaten auf diesen Augenblick gewartet. Im Verhandlungssaal in Istanbul hat sie an diesem Donnerstagmorgen endlich Gelegenheit, ihre Forderung nach Freispruch und dem Ende ihres Ausreiseverbotes zu begründen. Auf der Anklagebank spricht sie von ihrem kleinen Sohn Serkan, der eigentlich in Deutschland in den Kindergarten gehen sollte, aber nicht kann, weil seine Eltern in der Türkei bleiben müssen. Seit einem Jahr geht das jetzt schon so. Damit solle nun Schluss sein, fordert die Ulmerin.

Auch ihr Mann, Suat Corlu, und die anderen Angeklagten verlangen das Ende ihrer Ausreiseverbote. Doch das Gericht bleibt hart. Alle – auch Tolu und Corlu – müssen weiterhin in der Türkei bleiben; der nächste Verhandlungstag wird auf den 16. Oktober festgesetzt. Nach der Sitzung winkt Tolu zwei in Untersuchungshaft sitzenden Mitbeschuldigten nach, die in Handschellen zurück zum Gefängnis gebracht werden. Mehrere Monate lang saß Tolu im vergangenen Jahr selbst hinter Gittern, zeitweise hatte sie Serkan im Gefängnis bei sich. Seit Dezember ist sie auf freiem Fuß, doch muss sie in Istanbul bleiben.

Die Übersetzerin ist ratlos: In ähnlichen Fällen hätten andere deutsche Angeklagte doch ohne Auflagen sofort ausreisen dürfen, sagt sie mit Blick auf den Menschenrechtler Peter Steudtner und den Journalisten Deniz Yücel. Bei ihr sei das von Anfang an anders gehandhabt worden. „Es ist ein Schikane-Urteil“, schimpft die Linken-Politikerin Heike Hänsel, die wie der deutsche Botschafter in Ankara, Martin Erdmann, bei der Gerichtsverhandlung mit im Saal war. „Die Bundesregierung muss den Druck hier erhöhen.“

Eine sachliche Begründung für die Fortsetzung des Ausreiseverbots liefert das Gericht nicht. Tolu und ihre Mitangeklagten stehen wegen des Verdachts vor Gericht, linksextreme Terrorgruppen unterstützt zu haben. Es gebe keinerlei Beweise, schimpft Tolus Vater, Ali Riza. „Die Akte ist leer.“ Vor der Gerichtsverhandlung hatte sich Ali Riza Tolu noch darauf gefreut, seine Tochter und seinen Enkelsohn mit nach Deutschland nehmen zu können. Nun wird dies frühestens im Oktober geschehen. Dabei hatte die türkische Regierung zuletzt mehrmals signalisiert, dass sie an einem Ende der Krise in den Beziehungen zu Deutschland interessiert ist, die wegen der Inhaftierung von Bundesbürgern eskaliert war. Steudtner, Yücel und andere sind seit dem vergangenen Sommer freigelassen worden, Tolu nicht.

Auch bei türkischen Oppositionsjournalisten bleiben die türkischen Richter hart. Führende Reporter, Kolumnisten und Verlagsangestellte des regierungskritischen Blattes „Cumhuriyet“ wurden am Mittwochabend zu Haftstrafen von bis zu siebeneinhalb Jahren verurteilt. Wie Tolu bleiben sie vorläufig auf freiem Fuß, dürfen aber nicht ausreisen.

Und wie bei Tolu sind die Tatvorwürfe reichlich merkwürdig. So soll die strikt säkularistisch ausgerichtete Zeitung drei Organisationen geholfen haben, von denen sie ideologische Welten trennen: der kurdischen Terrorgruppe PKK, der linksextremen DHKP-C und der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen. Einer der Verurteilten, der Reporter Ahmet Sik, saß vor Jahren, als Gülen noch ein Verbündeter von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan war, schon einmal im Gefängnis – damals wurde ihm zur Last gelegt, die Gülen-Bewegung verleumdet zu haben.

Als Sik und die anderen Cumhuriyet-Mitarbeiter am Donnerstag zur Arbeit kommen, ist von Niedergeschlagenheit trotzdem nichts zu spüren, im Gegenteil. Es gibt Musik, kämpferische Reden und viele Umarmungen. „Die können uns keine Angst mehr machen“, sagt Vorstandschef Akin Atalay, der am Mittwoch nach anderthalb Jahren Untersuchungshaft als letzter Angeklagter auf freien Fuß gesetzt wurde. Seinen Kollegen berichtet er in der Redaktionssitzung davon, er habe sich beim Gang aus dem Gefängnistor gefühlt wie neugeboren.

Mindestens anderthalb Jahre werde das jetzt anstehende Berufungsverfahren dauern, sagt der Kolumnist Aydin Engin. Bis dahin dürften die Journalisten des Oppositionsblattes vor dem Gefängnis sicher sein. Zudem erhalten sie viel Zuspruch von türkischen und westlichen Journalistenverbänden – und von ihren Lesern. Viele Türken suchen spätestens nach dem Verkauf der Mediengruppe Dogan mit der Zeitung „Hürriyet“ und dem Nachrichtensender CNN-Türk an einen regierungstreuen Konzern im März nach Alternativen: Seitdem hat sich die täglich verkaufte Auflage von „Cumhuriyet“ fast verdoppelt.

 
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