Scharfe Kritik an innenpolitischen Gegnern und außenpolitischen Partnern gehört mittlerweile zu den Grundelementen jeder Rede des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Bei einem Besuch im südosttürkischen Diyarbakir am Wochenende wetterte der 62-Jährige gegen Kurdenpolitiker und den Verbündeten USA.
Doch ein kontroverses Thema meidet der sonst so streitlustige Erdogan konsequent: Mit keinem Wort erwähnte Erdogan bisher die am Donnerstag bevorstehende Armenier-Entschließung im Deutschen Bundestag. Das bringt Erdogan jetzt in eine ungewohnte Position. Ausgerechnet dem Scharfmacher im Präsidentenamt wird vorgeworfen, vor den Deutschen zu kuschen.
Die Entschließung sei ein politisches Manöver seitens Deutschland, um Ankara unter Druck zu setzen, sagen türkische Nationalisten – und die Türkei lasse dies ohne Einspruch geschehen. „Wo bleibt der Aufschrei?“ fragte der frühere Generalstabschef Ilker Basbug.
„Vertreibung, kein Völkermord“
Warum argumentiere die Türkei nicht wie bei anderen Gelegenheiten, dass es sich bei den Ereignissen des Jahres 1915 um eine „Vertreibung“ gehandelt habe, aber nicht um einen Völkermord, wollte Basbug wissen. Seit Jahren wehrt sich die Türkei mit diplomatischem und politischem Druck gegen die internationale Anerkennung des Massenmordes an den Armeniern als Genozid. Bei der Bundestagsresolution geht es aber nicht nur um historische Wahrheiten oder Unwahrheiten – aus türkischer Sicht geht es um hochaktuelle Machtpolitik zwischen Europa und Ankara.
Ex-General Basbug und andere Nationalisten sind überzeugt, dass die geplante Entschließung mit dem europäisch-türkischen Flüchtlingsabkommen zusammenhängt. Beim Thema Flüchtlinge ist die Türkei als Torwächter gegenüber der EU in einer starken Position und hat Brüssel wichtige Zusagen über Milliardenhilfen und Reiseerleichterungen abgerungen. Mit der Armenier-Resolution wolle Berlin dieser politischen Trumpfkarte Ankaras etwas entgegensetzen, vermutet Basbug.
Umso rätselhafter erscheint es nationalistischen Kritikern der Regierung in Ankara, dass Erdogan und andere führende Politiker das Armenier-Thema nicht ansprechen. „Deutschland erkennt den sogenannten Völkermord an und Ankara schläft“, kritisierte die Tageszeitung „Sözcü“. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu forderte in einem Brief an Merkel und andere deutsche Spitzenpolitiker, Berlin solle den Entschließungsantrag zur Armenierfrage zurückziehen.
Die ignorierte Resolution
Mehr als hundert Ex-Abgeordnete von Kilicdaroglus Partei CHP verfassten ein eigenes Schreiben an die deutschen Parlamentarier, um gegen die „hässliche Lüge“ vom Völkermord zu protestieren, wie der CHP-Politiker und frühere türkische Botschafter in Deutschland, Onur Öymen, sagte. Die Nationalistenpartei MHP betonte ebenfalls, der Bundestag habe kein Recht, sich als Richter über die Geschichte aufzuspielen.
Dass Erdogan und die Regierung in Ankara die Bundestags-Resolution bisher ignorieren, liegt unter anderem daran, dass die Türkei ihre Reaktion auf den geplanten Berliner Beschluss sehr genau abwägen muss. Zwar dürften der Präsident und sein neuer Ministerpräsident Binali Yildirim die Entschließung nicht ohne weiteres hinnehmen – die Einbestellung des deutschen Botschafters in Ankara, Martin Erdmann, sowie die vorübergehende Rückbeorderungen des türkischen Botschafters in Berlin, Hüseyin Avni Karslioglu, zählen zu den Optionen. Doch Ankara wird darauf achten, es mit Gegenreaktionen nicht zu übertreiben. Deutschland ist schließlich der wichtigste Handelspartner der Türkei und eine EU-Führungsmacht.