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WARSCHAU
Die Tragödie der Juden im Warschauer Getto
Einer der letzten Überlebenden: Simcha „Kazik“ Ratajzer-Rot berichtete bei der zentralen Gedenkfeier über den Aufstand im Warschauer Getto vor 70 Jahren.
Foto: afp | Einer der letzten Überlebenden: Simcha „Kazik“ Ratajzer-Rot berichtete bei der zentralen Gedenkfeier über den Aufstand im Warschauer Getto vor 70 Jahren.
Von dpa-Korrespondentin EVA KRAFCZYK
 |  aktualisiert: 24.05.2022 09:41 Uhr

In ganz Warschau heulen Sirenen und läuten Kirchenglocken. Sie ertönen am Freitag zum Auftakt der Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Getto. Angesichts der jährlich kleiner werdenden Zahl der Zeitzeugen ergriff auch Simcha „Kazik“ Ratajzer-Rot das Wort, einer der drei noch lebenden Getto-Kämpfer. Der 89-Jährige, der heute in Israel lebt, hatte jahrelang geschwiegen, wollte und konnte nicht über seine Erlebnisse sprechen.

„Es gibt keine Worte, um die Realität des Aufstands oder die Vernichtung der Juden zu beschreiben“, sagt er am Freitag. „Es gibt keine Worte für die Brutalität der Deutschen in der abgeschlossenen Welt des Gettos.“ Doch dann berichtet er doch vom Getto, von den Kindern, die als Erste starben, aber auch von Solidarität im Getto, vom kulturellen Leben der jüdischen Gemeinschaft hinter den Getto-Mauern. Er spricht von der bitteren Erkenntnis der gut 50 000 Menschen, die im April 1943 von den einst 350 000 jüdischen Einwohnern der polnischen Hauptstadt übrig geblieben waren.

Einsamkeit der Aufständischen

Die Juden im größten Getto Europas hatten Hunger und Epidemien überlebt, willkürliche Erschießungen, die Deportation von Hunderttausenden in das Vernichtungslager Treblinka. „Wir wussten, dass uns allen das gleiche Ende bevorsteht“, sagt Rot. „Wir wollten die Art zu sterben selbst wählen. Das war alles.“

Der Aufstand sei der erste Akt des bewaffneten Widerstands in den Städten des vom nationalsozialistischen Deutschland besetzten Europa gewesen, betont der 89-Jährige. „Und er war das letzte Kapitel der Tragödie der Juden.“

„Kazik“, so sein Untergrundname, sah nicht „jüdisch“ aus, sprach Polnisch ohne jiddischen Akzent. Er war einer der Verbindungsleute zwischen den Untergrundkämpfern im Getto und auf der „arischen“ Seite der Gettomauer. Von dort kehrte er auch Anfang Mai 1943 durch die Kanalisation in die rauchenden Ruinen des Gettos zurück, um nach Mitkämpfern zu suchen.

„Es kam mir vor, als sei ich der letzte Jude im Getto. Aber das Wunder geschah, nach einigen Stunden fand ich eine Gruppe von Gefährten aus dem Kampf. Heute gibt es kein Wunder mehr. Ich bin einer der drei Letzten, die noch leben.“

Rot spricht von der Einsamkeit der Aufständischen, die sich von der Welt allein gelassen fühlten, rühmt die Opferbereitschaft derjenigen Polen, die Juden retteten, und verschweigt auch nicht den Antisemitismus anderer Polen.

„Ein Menschenleben ist heilig“

„Ich kann und werde nicht verstehen, dass es Menschen gab, die Juden ohne Bedrohung für sich selbst auslieferten, so wie ich die nicht verstehe, die sich nach dem Krieg an Pogromen gegen überlebende Juden beteiligten“, sagt der alte Mann mit kräftiger Stimme.

Die toten Getto-Kämpfer und die jüdische Zivilbevölkerung, die mit ihnen starb, hinterließen eine Stille und Leere, die nichts füllen könne, sagt Rot. „Ein Menschenleben ist heilig. Niemand hat ein Recht, Leben zu nehmen, aus welchem Grund auch immer.“ Auch er frage sich bis heute, „ob wir das Recht hatten, über den Aufstand zu entscheiden und damit das Leben vieler anderer um einen Tag, eine Woche oder zwei zu verkürzen.“

Der polnische Staatspräsident Bronislaw Komorowski würdigte den Aufstand im Warschauer Getto als „heroischen Kampf um Menschenwürde und Menschenrecht“. Der Aufstand sei auch eine „Anklage gegen die Gleichgültigkeit der freien Welt“ gewesen, sagte Komorowski bei der zentralen Gedenkfeier. An der Zeremonie am 70. Jahrestag des Beginns des Aufstands nahmen auch der israelische Bildungsminister Schai Piron, der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, und Ex-Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth teil.

Warschauer Getto

Ein Jahr nach dem Überfall auf Polen errichteten die deutschen Besatzer 1940 mitten in Warschau einen Wohnbezirk für polnische und aus Deutschland deportierte Juden. Der eingemauerte Bezirk, „Getto“ genannt, war ein Sammellager für das Vernichtungslager Treblinka oder das Konzentrationslager Majdanek. Viele Bewohner des Gettos starben durch die rationierte Lebensmittelverteilung an Unterernährung und Krankheit. Allein zwischen Juli und September 1942 wurden mehr als 240 000 Menschen deportiert. Anfang 1943 sollte das gesamte Getto aufgelöst werden. Unter den verbliebenen Juden organisierten sich Widerstandsgruppen, Waffen wurden auf dem Schwarzmarkt gekauft sowie von der polnischen Untergrundorganisation „Heimatarmee“ geliefert. Am 19. April 1943 erhoben sich die Widerständler. Deutsche Truppen umstellten das Getto. In den ersten Tagen konnten die etwa 750 jüdischen Kombattanten die Einheiten der SS, Polizei und Wehrmacht aufhalten. Wegen der Bombardierung des Viertels zogen sich die Kämpfer in sogenannte „Bunker“ zurück. Am 16. Mai 1943 galt der Aufstand endgültig als niedergeschlagen. Insgesamt kamen mehr als 56 000 Juden während des Aufstandes ums Leben. Text: epd

 
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